Ich hatte den Geständnissen geglaubt, weil ich sie im Rundfunk aus dem Mund der Angeklagten gehört hatte. Damals ahnte ich nicht, daß es möglich ist, mit Amateuren elisabethanische Dramen bis hin zu echten Galgen zu inszenieren. Eduard Goldstücker, der berühmte Kafkaforscher, hat mir den Vorgang im Jahre 1967 erklärt: Die einen wurden mit der falschen Behauptung gebrochen, sie seien kläglich hereingefallen auf Spione, als Spitzengenossen aus dem Westen getarnt; in diesem Licht erschienen ihnen ihre ganz normalen Verbindungen und Tätigkeiten als Verrat. Die anderen gestanden, als sie das ununterbrochene Stehen ohne Schlaf zwischen den Verhören nicht mehr aushalten konnten, die unmöglichsten Verbrechen, um damit die politische Führung zur Wachsamkeit aufzurütteln; diese jedoch drehte ihnen um so erbarmungsloser einen Strick daraus und entfesselte neue Schauprozesse.
Trotzdem besuchte ich die mir persönlich unbekannte Familie, um mich zu entschuldigen. Keiner der Teilnehmer jenes letzten Burg-Abendmahls vor der Festnahme, der auch in der nachfolgenden Ära an der Macht blieb, hat das je in irgendeiner Form getan. Das macht den Unterschied zwischen Dichtern und Politikern aus. Darin wird mein zukünftiger Streit mit den Literaten des Westens bestehen, wenn sie wie Bernt Engelmann, als er an der Spitze des Verbandes deutscher Schriftsteller stand, beginnen, Politiker zu spielen und die Taktik der Moral vorziehen.
Die völlige Rehabilitierung und die Untersuchung des makabren Justiztheaters wurden durch die Invasion des Warschauer Pakts gestoppt und verhindert. Initiiert und provoziert haben die Bruderhilfe vom August 68 vor allem die Autoren und Regisseure des verbrecherischen Spiels, die die Gerechtigkeit fürchteten. Statt dessen durften sie jetzt der Tragödie Zweiten Teil anheizen; zu ihrem Leid und unserem Glück war der Galgen momentan unerwünscht.
Mein Mißtrauen gegenüber Doktor Husák drückt der letzte Eintrag im Tagebuch eines Konterrevolutionärs aus. Schon im April 1969 hat er als der neue Führer der Partei in seiner ersten Rede seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß es keinem Bürger schade, mindestens einmal das Gefängnis zu erleben. Überrascht jedoch haben mich die übriggebliebenen Reformpolitiker im Zentralkomitee der Kpč, die zu seinen Gunsten Alexander Dubček abgewählt haben. Freilich gehörten zu ihnen Husáks engste Freunde, die ihm vor zehn Jahren auf dem mühseligen Weg vom Kerker in das öffentliche Leben entscheidend geholfen haben. Sie behaupteten mir gegenüber, gerade deshalb könne er nicht zulassen, daß nach ihm noch andere jenen Rutsch in die Hölle erleiden müßten.
Politiker ohne die Kenntnis der Lehre Machiavellis ähneln Ingenieuren und Schriftstellern, die das Einmaleins und die Rechtschreibung nicht beherrschen. Schon im Herbst ließ Gustáv Husák seine gestrigen Verbündeten und Gönner aussperren, zuerst aus der Partei, dann aus dem öffentlichen Leben. Als sie, seinem nicht lange zurückliegenden Beispiel entsprechend, vor den Wahlen legale bürgerliche Aktivitäten zu entwickeln begannen, damit – wie er selbst von den Tribünen des Prager Frühlings zu sagen pflegte – «uns nie wieder jemand zu Schafsböcken machen kann», ließ er auf sie dieselben Hunde los, die einst beinahe ihn zerfleischt hätten. Er ließ sie einsperren.
Im Juni 1972 schrieb ich an die Generalstaatsanwaltschaft ein Gesuch, in dem ich höflich darum bat, die Strafsache gegen meinen kranken, lebenslangen Freund, den Journalisten Karel Kyncl, in Freiheit weiterzuführen. Ein gewisser Dr. jur. Prokop lehnte das strikt ab und verwies mich auf das baldige Gerichtsverfahren. Wie immer wurde es für Juli angesetzt, wenn Prag menschenleer ist und diejenigen, die dort geblieben sind, lieber zu den Moldaubädern als auf die Barrikaden gehen.
6
Böhmen, noch Sommer 1972
Eines Tages werde ich wissen: Wenn ihr Hunde euer Gelobtes Land hättet, es wäre Capri, wo ihr sogar in die Metzgerei dürft, doch auch in Österreich, wo mächtige Hygieniker herrschen, gibt es immer noch genügend Platz für euch. Wohl nur die stolze Konditorei Demel am Kohlmarkt kann es sich erlauben, euch vor ihr erhabenes Tor zu weisen; jeder andere Cafébesitzer und Hotelier würde als Hundehasser seinen Verdienst beweinen.
In der Tschechoslowakei ging es nach dem Krieg den Menschen miserabel, warum sollte es den Hunden besser gehen? Wenn der Mensch zum Menschen unmenschlich grausam sein darf, was kann dann Gottes Getier erwarten? Die fortschreitende Aufklärung der sechziger Jahre war ein Segen auch für euch. Eure Rechte wuchsen mit den Rechten eurer Herren. Dein Vorgänger Adam durfte schon wieder in die Konditorei des Karlsbader Grandhotels «Moskva-Pupp», und als er einmal ganz von Sinnen unser Tischchen samt Kaffee mit wildem Sprung mitnahm, entschuldigten sich die Ober eifrig, das habe sicher eine ihrer Kakerlaken verursacht.
Unter Doktor Husák wurden Herren und Hunde erneut hinter die Schwellen ihrer Wohnungen verwiesen. Das bedeutete, dich so zu erziehen, daß du eben dort viele Abende allein verbringen konntest, wann immer wir ausgingen, um die Reste der verschwundenen Welt zu suchen. Als wir dich zum ersten Mal allein zu Hause ließen, standen wir hinter der Tür und warteten, bis du aufhörtest zu bellen, falls man dein piepsendes Kläffen so nennen konnte. Als du nicht aufhörtest, kamen wir zurück und rügten dich, gingen fort, warteten und kehrten zurück, immer erschöpfter, während die Quelle des Alarms in deinem kleinen Körper unerschöpflich schien.
Als wir etwa zum zehnten Mal weggingen, vergaß Zet, das Licht auszumachen, und plötzlich warst du ganz still. Seit der Zeit ließen wir für dich immer eine Lampe brennen und verdächtigten dich, daß du in unserer Abwesenheit zu lesen pflegtest.
Am letzten Julitag gaben wir dich zum ersten Mal in Pflege. Der unweit wohnende, weltweit bekannte Philosoph Karel Kosík erhielt von Zet deine Decke, deine Schale, die Leine und das Fressen sowie eine schriftliche Anleitung, wie er mit dir umgehen sollte, wenn wir uns gegen unseren Willen länger aufhalten mußten: Immer, wenn das Regime jemanden aburteilte, nahm es dabei vor dem Gerichtsgebäude ein paar andere fest.
Der Luftangriff auf Prag und der Prager Aufstand von 1945 hatten mir schon mit sechzehn Jahren gezeigt, wieviel Gesichter der Tod hat. Den ersten Menschen in Fesseln sah ich dagegen erst jetzt, mit vierundvierzig. Es war Karel Kyncl. Als wir etwa vierzehn waren, meldeten wir uns beide für ein Rundfunkensemble, wo während des Kriegs die Finger des nazistischen Jugendkuratoriums nicht hinreichten. Er bestand die Prüfung in Rezitation, ich die im Durchhaltevermögen. Als ich beim Vorsprechen – vor Lampenfieber rot wie ein Krebs – durchfiel, klammerte ich mich derart verzweifelt an die Gruppe der Erfolgreichen, daß man es nicht über das Herz brachte, mich nach Hause zu schicken; aus Not begann ich, für das Ensemble zu dichten.
Nach dem Krieg bezauberten wir miteinander als «Die Zwei» mit unserem postpubertären Charme die Besucher der Internationalen Rundfunkausstellung Mevro. Er blieb beim Journalismus, mich zog das Theater an und uns beide die kommunistische Partei, wo wir jedoch nach und nach unsere Schwierigkeiten bekamen – wie so mancher Intellektuelle in so mancher Partei. Er wegen eines Pamphlets auf den führenden Parteibarden Vítězslav Nezval, ich wegen meines Stücks über dogmatische Kommunisten in der Armee, Septembernächte.
Das Leben trennte uns und führte uns immer wieder zusammen. Diesmal ging es ganz dramatisch zu. Als der Polizeikordon Zet und mich von dem kleinen Gerichtssaal wegdrängte, der mit pensionierten Polizeibeamten gefüllt war, damit der Anschein öffentlicher Verhandlung gewahrt blieb, gelang es mir, über die Hintertreppe wieder dorthin zu gelangen. Man führte mich erneut hinaus, doch plötzlich mußten wir warten, weil die Eskorte vorbeikam.
Der bleiche und magere Freund ging in Handschellen zwischen vier Uniformen. Sein Blick streifte mich nur, denn im Häuflein der Davongejagten drängten sich Arbeiter und Gründungsmitglieder der Partei, darunter seine alten Eltern, die zum Dank für lebenslange Treue jetzt nicht einmal dem Prozeß ihres Sohnes beiwohnen durften. Als ich Doktor Husák von der nächsten Post meinen Protest telegraphierte, wußte ich allerdings, daß es lediglich ein unwirksamer Aufschrei der Seele war.
Er