Wo der Hund begraben liegt. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461457
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für zwei kurze Tage aus ihrer politischen Verbannung befreien; einer hat sich verspätet, vielleicht betrunken, vielleicht verliebt in eines der Lehrmädchen aus dem Glaswerk oder aus dem Kaufhaus Zář – Die Glut –, und jetzt schickt er ihr den letzten Gruß; du

      trottest neben mir her wie immer, wenn einer deiner Leute zum Tor geht, ich verstehe weder deine Seele noch deine Sprache, wie deine Herrin sie zu verstehen scheint, ich schreibe dir auch nicht die Fähigkeit zu, in menschlichen Kategorien denken und fühlen zu können; doch gebe ich natürlich zu, daß du ein eigenes, verläßliches System der Wahrnehmung unserer gemeinsamen Welt hast, daß du auf deine Weise ihre Fragen begreifst und auch auf deine Weise

      antwortest; ich kann mir vorstellen, daß es dich sehr unruhig macht, wenn sie oder ich oder sogar wir beide zum Tor gehen, dort ist auch die Garage, und jede unserer Bewegungen in diese Richtung kann eine wesentliche Veränderung zum Besseren bedeuten, aber auch zum Schlechteren, du fährst mit uns irgendwohin, wo erlesenere Gerüche dich erwarten als in diesem langweiligen Garten, oder – o Schreck – wir lassen dich bei Dritten in Pflege, ohne dir mitteilen zu können, wann – und ob überhaupt – du uns

      wiedersiehst; eine so kleine Gefahr droht dir heute allerdings nicht, und von der großen haben wir bisher keine Ahnung, so gehe ich neben dir, reinen Gewissens und Gedankens, geläutert von gutem Schlaf, denke an gar nichts an diesem lauen Julimorgen, nach einem feierlich getragenen Frühstück unter den Birken, aus dem der Zauber

      besserer Zeiten weht, bessere Zeiten, eine Illusion!, wo sind sie geblieben?, dieses Jahr ist nichts anderes als die Fortsetzung des vergangenen, in dem man mich zusammen mit deiner Herrin unwiderruflich von Bürgern zu Unbürgern degradiert hat; so wie verräterischen Offizieren die Epauletten heruntergerissen werden, so hat man uns die zivilen Rangabzeichen weggenommen – Personalausweis, Führerschein, Autozulassung, Telephonanschluß, Postzustellung und schließlich auch den Mietvertrag; dieser Garten ist eigentlich unser

      Verbannungsort, ein Paradeort, gewiß!, denkt man zum Vergleich an die wahnwitzigen Ebenen Sibiriens, und gewissermaßen sind wir sogar aus freien Stücken hier, man hat uns anderes zugedacht, eine andere Wohnung ihrer Wahl, eine andere Heimat unserer Wahl; das Sommerhaus haben wir deshalb gewählt, weil es nicht in ihrem perversen Katalog stand, und so leben wir hier schon im zweiten Jahr mehr schlecht als recht vor uns hin und können uns nicht beschweren; wir wüßten auch nicht,

      bei wem, dieses Jahr hat uns schon viel beschert, reichlich, es wollte nicht hinter den neun vorangegangenen zurückstehen, Verhöre, Geldstrafen, weitere Verbote von allem, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ich erhielt als Novum einen Schlag ins Genick, zum Glück vorerst nur mit der Faust, meine und deine Herrin, die schon im Vorjahr verwundet wurde, statt eines Pflasters die Erscheinung eines Machtfalters namens Marcel Malkus, doch das war im Frühling, seit einigen Wochen herrscht Ruhe, das Gras ist aufgeblüht, mühselig gemäht, getrocknet und dann verbrannt worden, zum Ungras degradiert, als niemand es von uns Verfemten für seine Kaninchen zu nehmen wagte, aber sei’s drum, der freundliche Sommer hat unsere liebe Zet sogar in die Stimmung gebracht, Kirmeskuchen zu backen, wie einst

      im Frieden, es liegt in der Natur des Menschen, der nicht selbst angreift, sondern sich nur gegen die Versuche wehrt, seinen Geist vergewaltigen zu lassen, eine erkannte Wahrheit zu leugnen, die Würde in der Garderobe des Regimes abzulegen und sie mit einer Spitzeluniform oder einer Narrenkappe zu vertauschen, in der Natur unmilitanter Menschen liegt es, wenn nicht an die Anständigkeit, so doch an die Vernunft der Macht

      zu glauben, also glauben auch wir, und diese unerwartete Pause in der Verfolgung wollen wir als eine kluge Geste der Obrigkeit verstehen, endlich als die Frucht der Erkenntnis, daß gerade das Öl ihrer Schikanen das Feuer unserer Verteidungsreaktionen anfacht, als einen Reifungsprozeß des Apparats, von dem man eher erwarten konnte, daß er vom Frühjahr an dem Höhepunkt des Sommers entgegenrasen würde; am 21. August werden zehn Jahre vergangen sein seit jener Nacht, als hier sechshunderttausend Armierte brüderlich einfielen, von jemandem eingeladen, der sich bis heute

      nicht gemeldet hat; die Logik ihres verdorbenen Denkens sowie die Notwendigkeit ihrer Sekretariate und Dienststellen, die Jahr für Jahr aufwendigere Überwachungslust zu rechtfertigen, ließen uns eher eine weitere widerliche Runde unsinniger Belästigungen erwarten, die uns zwingen würde, unseren Protest noch lauter werden zu lassen, was sie zwingen würde, den Druck zu erhöhen, was uns zwingen würde, den Protest zu verstärken, was sie zwingen würde, was uns zwingen würde ... statt dessen also – wirklich, vielleicht? – ein Sommer im Zeichen

      dieser Kadenz des wehmütigen Flügelhorns, des Brausens des nahen Wehrs, des Duftes der fett glänzenden Aprikosen an der Garagenmauer, des Summens der Fliegen und Wespen, ein altböhmischer Sommer mit dem weißen Tisch unter den Birken, auf dem sich wie bei einer astronomischen Turmuhr miteinander abwechseln werden: Frühstück, Schreibmaschine, Mittagessen, Schreibmaschine, Vesper, Schreibmaschine, Abendbrot ... ...undfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig, stop!, wir sind beim Tor angelangt, und du weißt schon, daß die bösen Garagengeister für dieses Mal gebannt sind, denn du wartest nicht einmal, ob ich dir gnädig öffne, sondern schlüpfst übermütig, ja geradezu schamlos vor meinen Augen durch den Holzzaun, den ich vor einer Woche so hervorragend und undurchdringlich repariert habe, du durchtriebener, mit allen Salben geriebener, mit allen Wassern gewaschener

      Dackel, ich sehe, wie du die Segel deiner Ohren aufstellst, dich mit dem Paddel deines Schwanzes abstößt und mit einem einzigen gleitenden Sprung über die Einfahrt hinweg zwischen den Ähren landest, denen noch einiges fehlt, bis ihnen vom Staatsgut die Stunde der Mähdrescher schlägt; ich höre dein Kampfgebell, der Fistelstimme eines kreischenden Kindes ähnlich, und stelle mir den Mäusealarm vor, der jetzt über das riesige Feld bis zu den Mauern der Glaserei geschlagen wird; möge euch das Schicksal gnädig sein, ihr unbekannten Mäuse, und auch dir,

      Edison, Edi genannt; mit diesem Frieden im Herzen, trügerisch wie die scheinbare Ruhe des Feldes, auf dem die Schlacht tobt, öffne ich den Briefkasten, ein seltsamer Brief liegt darin, seltsam schon deshalb, weil er uns überhaupt zugestellt wurde, seltsamer noch wegen seiner für Böhmen ungewöhnlichen Form: die Adresse ist mit einem fremdländisch dicken schwarzen Filzstift geschrieben, und ich ahne noch nicht einmal jetzt, daß

      das Unglück gekommen ist.

Ein Hundeleben

      2

      Böhmen, 1961–1970

      Die Titelrolle in diesem Trauerspiel gehört dir, mein Dackel, nicht aus einer Laune des Autors heraus, sondern dem Willen der bösen Götter gemäß, die dir die Schlüsselszene zugedacht haben. Die Geschichte, lang und bewegt und mit immer neuen Einschüben und Verwicklungen, hatte allerdings eine Reihe von Protagonisten. Unter anderem auch mich. Vor allem aber sie.

      Sie hieß einst Jelena Mašínová und ging auf die Zwanzig zu. Sie wurde mir Anfang der sechziger Jahre von der Chefin der Theater- und Filmredaktion des Prager Orbis-Verlags geschickt, als ich einen langen Brief an den Präsidenten Novotný diktieren wollte, der eine vernichtende Kritik des Tschechoslowakischen Jugendverbandes enthielt: Ich gehörte damals zusammen mit einem gewissen Jan Zelenka und einem bestimmten Jiří Pelikán seinem Präsidium an; wer konnte wissen, daß er eines Tages italienischer Abgeordneter sein würde?

      Die Schreibkraft wurde mir telephonisch als eine glückliche Kreuzung zwischen Geist und Grazie angekündigt. Dem umschwärmten Autor war sie kupplerisch für einen ganzen Tag überlassen worden. Es kam ein mageres Mädchen in einem Kleid von knallgrüner Farbe, der einzigen, die ich absolut nicht ertragen kann. Allerdings entgingen mir ihre auffallend schönen Beine und Finger nicht. Leider jedoch klopfte sie mit ihnen jedesmal vor Ungeduld, wenn sie darauf wartete, daß ich das richtige Wort fand.

      Sie reizte mich auch dadurch, daß sie den meiner Meinung nach mannhaften Tonfall und Inhalt meines Briefes, der mich alsbald meine hohe Funktion kostete, auch nicht mit der leisesten Bewunderung quittierte. Ich zahlte den Frosch aus und schickte ihn schon am Mittag wieder zurück. In die Redaktion kam sie jedoch erst am nächsten Morgen. Ihren Geist bewies sie durch die richtige Vermutung, daß ich sie nicht verraten würde.

      Im Jahre 1963 sah ich sie