Wo der Hund begraben liegt. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461457
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für die es keinen Ersatzreifen gibt. Auf jenem Friedhof lag die erste Kreuzung, an der unsere Schicksale auseinanderliefen.

      Procházkas Begräbnis war würdig. Leise und erhaben. Als ich mich von Jan kurz verabschiedete, sah ich von dem Lehmhügel aus, auf dem ich stand, wohl alle, die den Sisyphus-Fels der Reform dieses Landes fast dreizehn Jahre bergauf gewälzt hatten, bevor sie, gemeinsam mit ihm, zurück in den Abgrund gestürzt wurden. Dubček schickte einen Brief. Es fehlte nur Doktor Husák, der an seiner Statt Polizisten schickte.

      Hier stand auch der kranke Riese Josef Smrkovský, dessen Urne später auf einer Toilette im Zug gefunden werden sollte, der Philosoph Jan Patočka, bei dessen Beisetzung Motorräder brüllen sollten, und František Kriegl, der einzige tapfere Nein-Sager zu den Moskauer Protokollen von 1968, der schon ohne jegliche Zeremonie wie ein Verbrecher heimlich eingeäschert werden sollte. Hier wurden die Teilnehmer noch mit heimischen Amateurkameras gefilmt, mühsam getarnt auf Bäumen. In den folgenden Tagen wurden viele zum erstenmal ernstlich verwarnt. Für die einen hörte damit die Zeit der Widerborstigkeit auf, für die anderen begann sie erst richtig.

      Zet und mir war traurig zumute. Immer mehr sehnten wir uns nach einem Hund.

      4

      Böhmen, Herbst-Winter 1971

      Am Donnerstag, dem 21. Oktober, wurde, etwa drei Kilometer Luftlinie von uns entfernt, in der Wohnung eines gewissen Ingenieurs Novák ein halbes Dutzend nasser Mäuse geboren, die ihrer Blindheit wegen das Licht der Welt noch nicht erblickten. Bevor sie sehen konnten, zitterten sie noch ein paar Tage. Ihr dünnes Pfeifen hörte nur auf, wenn sie sich am Körper der ermatteten Mutter Pandora festsaugten.

      In dieser Zeit überlegten Zet und ich ganz ernsthaft, ob wir uns einen Schäferhund anschaffen sollten, der uns bewachen, eine Bulldogge, die uns rühren, einen Foxterrier, der uns unterhalten, einen Labrador, der mit uns spielen sollte oder vielleicht einen Yorkshire, der selbst ständigen Schutz brauchte. Doch die geheimnisvollen Sterne leiteten unsere Wege zu dir, kleine Maus – zukünftiger großer Rauhhaardackel.

      Den Tag deiner Geburt verbrachte ich wieder auf dem Friedhof. Für Jans Grab legten zum letzten Mal seine Schauspieler – schon heimlich – zusammen, bevor sie sich endgültig den neuen Prinzipalen unterordneten. Gratis entwarf den Stein keiner der Prager Künstler, deren Werke er ebenso gern zu kaufen pflegte wie Fußballstürmer, sondern ein Bildhauer vom Lande, der das als seine Bürgerpflicht ansah. Zu zweit stellten wir mühsam die schwere Marmor-Pieta auf, unmittelbar vor Allerheiligen. Eine alte Frau, die als erste unterhalb des Namens den Titel «Tschechischer Schriftsteller» las, seufzte selig:

      «Hierhin werde ich zum Beten kommen!»

      Wie selbstverständlich wurde ich zum Vormund der minderjährigen Töchter. Die Familie des verbotenen Autors hatte kein Geld. Meine Funktion trat ich in einer Sondermission an. Die letzten Drehbücher hatte Jan unter dem Namen der jeweiligen Filmregisseure geschrieben. Zusammen mit den hervorragenden Texten bot er ihnen als Kavalier die Hälfte seines Honorars an. Regisseur K. K. zahlte das Geld sofort aus. Dafür sagte er sich bald öffentlich von seinem mit Abstand besten Film los: Jetzt wollte er plötzlich Jans politische Irrtümer im Drehbuch übersehen haben. Erwachsene Männer fingen an, sich wie verführte Jungfrauen zu benehmen.

      Regisseur Karel Steklý versuchte klarzumachen, daß er seinen letzten Film selbst geschrieben habe. Ich schaute diesen alten Mann mit dem Gefühl unaussprechlicher Scham an, als ich ihm Jans Originalmanuskript vorlegte, das ihn politisch wie moralisch vernichten konnte. Ein bißchen kam ich mir wie ein Erpresser vor, doch er nahm ohne Zögern zehntausend Devisen-Kronen aus der Schublade, fehlte nur noch, daß er wie ein diebischer Ober gesagt hätte:

      «Versuchen kann man’s ja mal!»

      Das Jahr verging im Zeichen wachsender Angriffe der Medien und Behörden. Kein Wunder, daß die Struktur der menschlichen Beziehungen erschüttert wurde. Der Deserteur bei Procházkas Begräbnis war die erste Schwalbe. Im Herbst schwirrten über Böhmen bereits Schwärme von Überläufern. Das Regime hatte sich bis zu den Wurzeln des Apparats und der Institutionen durchgefressen. Wer von dort her die Verfemten noch warnte, war schon ein Held. Wie meine Kinderliebe, als sie mir mit bebenden Händen die Liste Nr. 1 überreichte, eine geheime Aufstellung der Werke von zweihundertzwanzig tschechischen Autoren der Vergangenheit und Gegenwart, die aus den Buchhandlungen und Bibliotheken, also aus dem Gedächtnis verbannt werden sollten, Dilia, die staatliche Theater- und Literaturagentur, begann, alle ausländischen Verlage zu boykottieren, welche die Totgeschwiegenen weiter herausgaben. Es war völlig gleichgültig, was das den Staat kostete.

      Einer der notorischen Alkoholiker, die jetzt massenweise in hohe Funktionen avancierten, ein gewisser Genosse Sedláček aus der Zentrale der normalisierten Partei, schwankte gern in der Weinstube «Viola» zu dem Tisch, an dem ich mich oft mit Havel traf.

      «Wir haben euch aus den Lesebüchern gestrichen!» rezitierte er freudig mit schwerer Zunge.

      Ach du schönes Böhmen, mein Böhmen, was kann man von dir auch verlangen, wenn dir in dreißig Jahren zweimal von treuen Verbündeten das Genick gebrochen wurde, einmal um den Frieden zu erhalten, das andere Mal, um den Sozialismus zu retten. Dem geht es nach dem Jahre 1968 ähnlich wie nach 1938 dem Frieden. Bis auf weiteres ist es aus mit ihm.

      Das Regime hatte jetzt nicht mehr nur ein Häuflein unzuverlässiger Stützen, die sich am Zipfel des Uniformrocks des großen Bruders festhielten. Unter seiner Schutzherrschaft verwandelte sich das Land in eine große Verpflegungsanstalt, zu der – wie zum Schriftstellerklub – allein diejenigen zugelassen wurden, die bereut und sich gebessert hatten. Nur eifrige Reue konnte die gestrigen Verirrungen ungeschehen machen, denen hier in jenem verführerischen Frühling fast alle erlegen waren. Und sie alle beeilten sich, die eigenen Verfehlungen auf diejenigen abzuwälzen, die bisher töricht an dem Schwur der Solidarität festgehalten hatten.

      So manche weiteren Repressionen hatten groteske Züge. So wurde ich auf die Militärverwaltung Prag 1 geladen. Zweck: Kontrolle des Wehrpasses. Ein gewisser Major Hanzal wollte meine Unterschrift, bevor er ihn mir zurückgab. Bieder scherzte er, doch gleichzeitig schwitzte er verdächtig an den Händen. Also schaute ich mir das Dokument vorher an. Anstelle eines Hauptmanns der Reserve war ich darin wieder nur einfacher Soldat.

      Er lief vor mir in das Büro des Dienststellenkommandanten, Oberst Hruška, der schon aufstand und befahl:

      «Habt acht!» Der Major nahm Grundstellung ein wie bei einer Parade, und sein Vorgesetzter stotterte einen Befehl des Verteidigungsministers herunter, wonach «der Dienstgrad demjenigen aberkannt werden kann, der im Widerspruch zu den moralischen und politischen Anforderungen handelt». Als er damit fertig war, schien es ihn geradezu zu jammern, daß er mir statt der fehlenden Schulterstücke nicht wenigstens den Kragen an meiner Jacke abreißen konnte.

      Ich wollte die konkrete Anschuldigung wissen, und da verlor er die Beherrschung.

      «Sie haben Stalin verraten!»

      «Nein», sagte ich, «Stalin hat mich verraten.»

      Da waren sie wieder, die zu allem Fähigen, Stalins altneues Aufgebot, seine Brut, aufgestellt zur nächsten Jagd. Ich legte den ungültigen Wehrpaß auf den Tisch und sagte, daß ich mit seiner Annahme in keinem Fall meine ungesetzliche und demütigende Degradierung anerkenne. Der Oberst schien einem Schlaganfall nahe und brüllte bis auf den Flur, er werde gegen mich eine Strafverfolgung einleiten lassen.

      Das Wehrgesetz der Čssr verpflichtet jeden Bürger, seinen Wehrpaß zu Hause zu haben. Verlust wird streng bestraft. Mit der Rückgabe hatte der Gesetzgeber nicht gerechnet. Ich fand diese Lücke, als ich mir unverzüglich – wie von jetzt an immer wieder – in einer Art juristischer Selbstbedienung die betreffende Amtsliteratur besorgte. Ohne Nachweis, daß meine Wehrpaßangelegenheiten vorschriftsmäßig geregelt sind, konnte mir höchstens die Ausreise in das Ausland verweigert werden, doch diese Gefahr bestand für mich nicht, da mir der Reisepaß längst entzogen worden war.

      Ich wartete nicht auf ihre Attacke, ich überfiel sie selbst. Meine Beschwerden regneten auf alle Instanzen herab, bis zum Minister und dem Präsidenten als Oberbefehlshaber.