Mit dem Schreiben kam ich nicht voran. Ausnahmsweise schriftstellerte in diesem Sommer Zet, der es sonst genügt, ihre eigenartigen Geschichten beim Wein zu erzählen. Aber sie wollte die Filmakademie abschließen, solange ihr Mädchenname noch seine Wirkung tat. Nach der reizend-listigen theoretischen Arbeit Das Tier als Held in Film und Fernsehen, die der Opponent widerstandslos genehmigte, weil er keine Literatur zu dem Thema entdecken konnte, mit der er Zets kühne Schlußfolgerungen hätte vergleichen können, schrieb sie das Drehbuch Die Einfälle der heiligen Klara. Der Schriftsteller František Kožík, durch den Widerruf seiner Petitionsunterschrift für den Staatsfilm gerettet, riß es ihr erfreut aus den Händen und retournierte es bald mit Schrecken, als ihm zugetragen wurde, wen die talentierte Szenaristin so selbstmörderisch geheiratet hatte. Dieser Vorfall soll sieben Jahre später ein erfolgreicher Akkord ihres ungewollten Exils werden, wenn das Zweite Deutsche Fernsehen das Werk realisieren wird.
Am 11. September, im Schatten der Ermordung Allendes in Chile, schossen die tschechischen Massenmedien eine besonders gefährliche Salve von Lügen ab. Dieselbe Petition für politische Häftlinge, die im Vorjahr die tschechische Literatur endgültig geteilt hatte, war angeblich von dem westdeutschen Journalisten Hans Peter Riese, der sogleich ausgewiesen wurde, bestellt und bei einem Zusammentreffen mit Havel, Klíma und mir am 7. November 1972 im Café «Viola» mitverfaßt worden. Weil nicht einmal die Bezeichnung des Lokals stimmte – die «Viola» war eine Weinstube – und von uns drei Verbrechern am besagten Tage nachweislich jeder woanders war, forderte ich stellvertretend für alle Verleumder den Chefredakteur des Parteiorgans Rudé Právo auf, die Behauptung richtigzustellen, und klagte dann gegen ihn.
Da versah sich die Macht mit einem Kronzeugen. Während seiner privaten Reise in die Slowakei überfiel die Staatssicherheit den Ostrauer Schriftsteller Ota Filip, der schon bald nach der Invasion mehrere Monate im Gefängnis verbracht hatte. Er kam hin und wieder in Klímas literarischen Salon, geschätzt wegen seines ersten Buches und gern gesehen wegen seiner Freundlichkeit. Weil er jedoch auch uneingeschränkt gesprächig war, und dazu in einer Bezirksstadt lebte, in der sich die lokalen Machthaber ganz zügellos auszutoben pflegten, sahen wir uns zu besonderer Rücksicht genötigt. So informierten wir ihn nicht einmal von der Petition, und so fehlte seine Unterschrift darauf.
Um so größer unsere Erschütterung, als das Fernsehen am 25. September unter dem Titel Verbrannte Flügel ein Gespräch Filips mit zwei Sicherheitsoffizieren brachte, in dem der erpreßte Kollege die Beschuldigung gegen Riese und das Treffen, das nie stattgefunden hatte, als angeblicher Teilnehmer bezeugte. Vaculík und ich baten Ota Filip danach brieflich um eine Erklärung. Anstelle seiner Antwort erschien bei uns beiden die Polizei.
Bei mir zum ersten Mal. Zwei Kerle wie Schränke bemühten sich gar nicht erst, mir irgendeine Vorladung zu zeigen, und mir genügten ihre Uniformen, um sie gar nicht erst danach zu fragen. Unterwegs im Wagen schwiegen sie hochmütig, wie auch später alle, die mich in den nächsten Jahren eskortieren sollten. Wahrscheinlich wird ihnen in ihren Bullenschulen beigebracht, sie würden dadurch den Delinquenten seelisch weichmachen. Auf mich wirkte das eigenartigerweise umgekehrt. Jedesmal wurde ich dabei aus allen schöpferischen Gedanken und menschlichen Gefühlen herausgerissen und konzentrierte mich ganz auf den Auftritt, der mich erwartete – fast wie ein Schauspieler, der ich wegen mangelnden Talents nicht werden durfte. Jetzt wollte ich mich selbst spielen, nach den erhabensten Vorstellungen, die ich von mir hatte.
Bei dieser ersten Fahrt stellte ich mir die grundsätzliche Frage: Wie soll ich mit ihnen reden? Mir war klar, daß ihre Firma kein Recht auf die Wahrheit hat, denn die bringt ihr nur neue Opfer aufs Tablett. Lügen oder Lavieren stieß bei mir also keineswegs auf moralische Hindernisse, sondern auf mein verhältnismäßig schwaches Gedächtnis, gegen das ich seit meiner Jugend mit Notizbüchern, bekritzelten Papierfetzen, Mnemotechnik und Knoten in Taschentüchern ankämpfe. Gegen das elektronische Gedächtnis der Macht war ich absolut chancenlos; so entschloß ich mich bei dieser Gelegenheit ein für allemal, überhaupt nichts zu sagen.
Die Stunde, die sie mich im trostlosen Warteraum schmoren ließen – ein anderer uralter Trick – genügte, mich darin zu bestärken. So trat ich schließlich vor den Mann, der als erster nach mir schicken ließ, ein gewöhnlicher Wachtmeister namens Vacek von der «normalen» Polizei, der mich amtlich verwarnte, der Bürger Ota Filip habe sich durch meinen und Vaculíks Brief erpreßt gefühlt, seine wahrheitsgetreuen Aussagen zu ändern; wir seien auf dem besten Wege, ihn in den Selbstmord zu treiben. Ich nannte das mit einem Satz eine weitere Frucht der Erpressung Filips und – durfte nach Hause gehen.
Der Tag der Prüfung sollte erst noch kommen. Doch schon bei dieser ersten Stellprobe sammelte ich instinktiv alle Erfahrungen, die mir die folgenden Jahre dienen sollten: schnell Jeans anziehen und warme Pullover aus dunkler Kaschmirwolle, mich mit Geld, Zigaretten und Lektüre versorgen und die Angst mit einem Schuß gesunder Wut überspielen.
Der Fall hatte eine Reihe von Pointen. Ota Filip traf ich erst nach Monaten. In meinem Auto, mit gelöschten Lichtern, in einer stillen Gasse am linken Moldauufer geparkt, erklärte er mir den Grund seiner Lüge. Es war erschütternd, wie es sich damit deckte, was mir die Opfer stalinistischer Prozesse erklärt hatten: Angeblich wollte er in seiner Not die Spürhunde mit einer Absurdität füttern, die nach Überprüfung nicht hätte irgendwie verwendet werden können. Den Fehler sah er leider allein darin, daß er in seinen Erfindungen zuwenig übertrieben hatte. Nein, sagte ich, nachdem ich ihm versichert hatte, daß ich ihm seiner Schwäche wegen nicht böse sei:
«Der Fehler liegt in deiner labilen Psyche. Geh fort, hier brechen sie dich bald total.»
Er sollte bald nach Deutschland auswandern. Auf mein Ersuchen hin schickte er mir dann aus München eine notariell beglaubigte Erklärung, seine Behauptungen seien ihm vor laufenden Kameras abgenötigt worden. Er legte einen sehr treuherzigen Brief bei, sein Versagen sei offenbar durch den Schock des erlittenen Überfalls verursacht worden und sicher auch durch die Furcht, wieder hinter Gitter zu geraten.
Die Macht, die schon lange ihre eigenen Gesetze und Unterschriften unter internationalen Abkommen mißachtete, benahm sich gleichzeitig geradezu komisch zimperlich in der Einhaltung von Formalitäten, die den Anschein der Gesetzesordnung aufrechterhalten sollten. Meine Berichtigungsklagen werden am 1. September 1976 verhandelt, um den Beschluß über die maximal dreijährige Frist bei der Erledigung von Zivilstreitigkeiten gerade noch vor dem Termin pedantisch einzuhalten.
Die einzigen Zuschauer werden dann Zet und Ludvík Vaculík sein. Der Rechtsanwalt des Beklagten wird mitteilen, sein Mandant sei nicht mehr Chefredakteur von Rudé Právo und unbekannt verzogen. Ich erfreute das Hohe Gericht mit dessen neuer Adresse: Miroslav Moc, Botschafter der Čssr in der Schweiz, Bern.
Auf Aufforderung meines Rechtsanwalts läßt die Richterin die Verlesung der Münchener Erklärung Ota Filips zu, wonach er sich alles unter Druck ausgedacht habe. Auf Aufforderung der Gegenseite wird dann eine uns bisher nicht bekannte schriftliche Aussage Ota Filips verlesen, deren man sich noch vor seiner Ausreise weitblickend gesichert hatte. In ihr beschwor er, alles aus freien Stücken, nur der Wahrheit zuliebe, ausgesagt zu haben, und dazu auch in Zukunft treu zu stehen, was immer dem entgegenwirken sollte.
«Ist das ein- und derselbe Herr Filip?» wird danach die Richterin fragen.
«Ja», antworten beide Rechtsanwälte unisonso.
«Also, dann muß ich das noch einmal durchsehen!» verkündet die gute Frau erleichtert und vertagt sofort, womit eine Frist beginnen wird, diesmal unbefristet.
Vom Gericht werde ich dann mit Vaculík, wie häufig zu dieser Zeit, schnurstracks in die Sauna auf der