Da mussten diese wandelnden Trauerglocken beiseite treten. Es kam in raschem Hufklappern um die Ecke, im geräumigen Schritt eines Pferdes, so wie heute die ganze Nacht hindurch — ein sonnenbrauner Jäger auf einem Schimmel ward sichtbar und lenkte seinen Gaul ohne weiteres mitten durch die Haufen der Menschen, als ob das ein aufgescheuchter Schwarm Spatzen wäre. Er rief dem Kärrner auf arabisch ein paar rauhe Worte zu, ihm weiter durch die stillen weissen Hausmauern der Strasse vor ihnen zu folgen. Dort angelangt, hielt er sich neben dem Wagen. Die Gasse war so eng und düster wie ein Festungsgraben. Sein Knie berührte fast das Rad der Arabâ. So zogen sie in dem stillen Schatten dahin, in den von oben, vom blauen Himmel her, über den Rand der flachen Dächer allerhand grünes Schlinggewächs, rote Blumensterne, violette Dolden im Winde schaukelten und wehten, und in dem ab und zu ein paar spielende Kinder lautlos in dämmerige Höfe huschten. Nun besann sich Yvonne Roland erst und forschte: „Wie kommen Sie denn nur auf einmal hierher?“
„Sehr einfach: ich bin ebenso wie Sie die Nacht auf der Strasse gewesen ...“
„Ach — dann waren Sie das, von dem man immer das Hufgetrappel gehört hat?“
„Wahrscheinlich war ich zufällig immer hinter Ihnen.“
Sie war unbefangen genug, seine Gleichgültigkeit für bare Münze zu nehmen. Sie sagte, im Karren kauernd und wieder die Hände über den Knien faltend: „Ach so! ... Dann ist’s ja gut ... Aber bitte schauen Sie mich nicht so an!“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich so greulich ausseh’, ganz verwildert ... nach solch einer Nacht ...“ Sie blickte ein wenig verlegen, im Gefühl ihrer Zigeunerhaftigkeit, vor sich nieder. Erst nach einer Weile hob sie wieder die Wimpern. Nun schaute er im Sattel von ihr weg, geradeaus. Sie musterte ihn unwillkürlich. Dem machte solch ein Ritt natürlich nichts aus! Der war wie dazu geschaffen. Eigentlich gefiel er ihr sehr gut, und sie betrachtete ihn immer noch, als er sich plötzlich umwandte und fragte: „Warum schauen Sie mich denn nun so an, Mademoiselle Roland?“
„Weil ...“ Sie stockte, fasste dann Mut und sagte schnell: „Man hat mir erzählt, Sie wären auch hier Soldat gewesen!“
„Ja — ich war auch Soldat.“ Weiter sagte er nichts. Sie wagte nicht, weiter zu forschen. Da wies er schon mit der Hand auf einen vor ihnen sich öffnenden freien Platz. „Hier ist die Kasbah — die Zitadelle ...“
Es war das Unwahrscheinlichste, was hier unter afrikanischem Himmel, von der Sahara umgeben, im zwanzigsten Jahrhundert stehen konnte: die Zeiten der Römer Waren wieder lebendig geworden. So wie die Legionen einst dies Kastell am Palmenhochwald errichtet und die Byzantiner es ausgebaut hatten, so trotzte es jetzt noch, ein riesiges, hochragendes Mauerviereck mit geschnörkelten Zinnen und schlanken Warttürmen und Torbögen und Gräben, unter dem Blau des Himmels, im Gelb des Wüstensandes aus dem grauen Felsboden weit über die Lande, ein düsteres Zwing-Uri, ein steinernes Sinnbild der Macht. Ein paar Dattelbäume hoben aus dem Innern ihre grünen Kronen über den Mauerkranz und rauschten im Morgenwind. Sonst rührte sich nichts. Die grosse Eingangspforte war fest verschlossen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich langsam auf das Klopfen hin öffnete und der Wachtposten, ein diensthabender Unteroffizier, herzukam.
Dieser, ein baumlanger, hübscher Mensch, steckte seinen Blondkopf durch den Spalt und sah verdutzt auf die Fremde, die da vor ihm stand, jung und schlank, den weissen Tropenhelm immer noch schief auf dem Kopf. Sie wollte ohne weiteres an ihm vorbei und hinein. Aber er wehrte ihr. Jetzt ging das nicht! Zu dieser frühen Morgenstunde! Ob ein Kranker einen Besuch empfangen konnte oder nicht, darüber musste der Stabsarzt entscheiden!
„Aber ich kann nicht warten, Monsieur!“ sagte Yvonne Roland entschieden. Ihre Stimme bebte vor Ungeduld, ihre Hände ballten sich im Zorn. „Ich muss zu meinem Bruder!“
„Ich bedaure unendlich, Madame! Es ist gegen meine Instruktion.“
„Ach — Ihre Instruktion!“ Sie machte einen neuen Versuch, einzudringen. Aber der Sergeant war ebenso höflich wie unerbittlich. „Madame würden die acht Tage Arrest nicht für mich absitzen, die ich dann bekomme“, sagte er, legte noch einmal grüssend die Hand an das Käppi und sperrte die Türe wieder zu. Der Jäger sagte zu Yvonne Roland: „Der Eingang bleibt nun schon verschlossen. Der Sergeant tut nur seine Pflicht.“
„Aber vielleicht kann man woanders hinein!“ Yvonne Roland musterte das Kastell mit einem finsteren Blick hartnäckiger Kampfbereitschaft. Und plötzlich hellte sich ihr unter der abenteuerlichen Kopfbedeckung doppelt schmales Antlitz auf. Dort oben, auf dem Gang zwischen dem Kranz der Mauerzinnen, hart neben der vorspringenden Rundung des Eckturms, dort oben flatterte frisch gewaschene Wäsche. Wer die über die Seile gehängt hatte, der musste doch hinauf und hinunter gekommen sein. Und nun entschied sie: es gab da eine Art Treppe, oder eigentlich nur lange Eisenstifte, die, in einiger Entfernung voneinander eingetrieben, schräg aufwärts führten.
„Da steig’ ich hinauf!“ sagte sie entschlossen zu ihrem Gefährten. Der schüttelte abwehrend den Kopf. „Wenn ich Ihnen helfen könnte — ja. Aber ich darf als früherer Soldat solche Abenteuer nicht riskieren. Man kennt mich hier.“
„Ich kann auch allein!“ Sie stellte prüfend einen Fuss auf die erste verrostete Sprosse, warf einen misstrauischen Blick umher, und arbeitete sich in die Höhe. Er stand unten, bereit, sie aufzufangen, falls sie stürzte. Aber sie turnte sich bis zum Zinnenrand empor, schwang sich hinüber und nickte lebhaft als Zeichen, dass ein Abstieg nach innen vorhanden sei. Er rief ihr gedämpft hinauf: „Ihr Bruder liegt, wenn Sie um die Ecke kommen, in dem neuen, blau gestrichenen Häuschen, das auf die Mauer zwischen den beiden Halbtürmen aufgesetzt ist ... die Treppe hinauf und gleich rechts ...“
Sie nickte noch einmal. Dann verschwand der weisse Helm hinter der Mauer. Sie sprang die letzten Sprossen hinab und stand innen und schaute sich um.
Da war das Verwaltungsgebäude, ein Hof davor, eine hohe Palmengruppe in der Mitte, eine Menge zerbrochener Römersäulen darum herum, aber kein Mensch zu sehen. Also flugs weiter. Im Lauf um die Ecke, den niedrigen Holzschuppen mit den Wasserbottichen, den krapproten, in der Sonne trocknenden Hosen und Leibgurten, den Seifenstückchen und Handtüchern der Militärwäscherei rechts lassend, und nun — o weh — da waren Menschen — aber nur Araber — kranke Araber! In blauweiss gestreiften Kitteln kauerten sie in der Sonne, zwischen ihnen ein Negerjunge mit geschientem Arm und ein gelblicher, schwindsüchtig hustender Soldat. Sie alle schauten stumm und erstaunt, aber ohne sich zu rühren, auf die Fremde. Die ging jetzt langsam, um keinen Verdacht zu erwecken, so wie jemand, der seines Wegs ganz sicher ist, schnurgerade auf das blaue Haus zu und die Treppe hinauf und hinein.
Das Zimmer links war leer. Es schien zur Zeit unbenutzt. Rechts war die Türe offen. Sie holte tief Luft, sammelte sich einen Augenblick und trat über die Schwelle. Drei Betten standen in dem grossen kahlen Raum. Von zweien waren nur die Gestelle da, niemand darin. Im letzten aber, am Fenster, da regte sich etwas und seufzte zwischen der strohgefüllten Matratze und der groben grauen Wolldecke. Durch das vor den Scheiben nickende gelb zerschlissene Palmengefieder des Oasenwaldes fiel die warme Morgensonne in trügerischem Rot auf ein blasses junges Gesicht mit eingesunkenen Augen und einem leidenden Zug um die Lippen.
Der junge Soldat hatte ein Geräusch gehört und setzte sich mühsam im Bette auf. Dabei belebten sich seine Züge von der Anstrengung ein wenig. Das war ein hilfloses, spitzes, mageres Gesichtchen. Er starrte aus grossen Augen seine Schwester an, die im Türrahmen stand, und murmelte dann erschrocken, als habe er ein Gespenst gesehen: „O Gott ... Yvonne ...!“
Dann glitt allmählich ein freundliches Lächeln über sein Antlitz. Er schloss halb die Lider, wie um die flüchtige Sinnestäuschung, die Erinnerung an die Tage von einst, an die Kindheit, an die Heimat in grünen Wäldern fern überm Strom, möglichst lange festzuhalten. Aber die blieb und blieb. Und nun ging seine ungläubige Verklärung in Trauer über, in Kummer über seine Schwäche und Sehnsucht, die ihm solche Bilder vorgaukelte. Nachdem er noch einmal leise geseufzt: „Ach Gott ... Yvonne!“ winkte er mit einer trostlosen Handbewegung der Luftspiegelung