Tiefer und tiefer waren Sidi Frank und seine Begleiterin in das Innere der Oase gegangen. Sie sprach fast nichts. Sie wollte nur schauen. Er störte sie nicht. Er blickte nur zuweilen von der Seite mit einem halben Lächeln, das sein düsteres, in Wildnis und Einsamkeit abwehrend streng gewordenes Gesicht seltsam erhellte, auf sie hinüber, während sie da neben ihm ging.
„Ach — das ist ja gar nicht wahr!“ sagte sie endlich, als eben ein kleines Negerbüblein auf einem Esel vorbeigetrabt war und beide durch seinen fröhlichen Gruss: „Bon jour, Sidi!“ aufgeweckt hatte, „— das ist wie ein Wunder so schön!“
Er nickte. In dieser Andacht vor der Natur waren sie beide eins. Und nun fingen sie auch an zu reden. Nicht voneinander. Das wagten sie nicht. Sie kannten ja nicht einmal ihre richtigen Namen. Sie wussten, dass sie Verstecken miteinander spielten und spielen mussten in dem fremden Land und dass das vielleicht ganz gut so war — aber von der Oase erzählte er ihr und sagte ihr: „Nun wissen Sie, warum sie ‚El-Ariana‘ heisst — ‚die Rose‘ — die Rose der Wüste!“
Und dann wies er ihr allerhand Dinge, die sie bisher noch nicht beachtet hatte: die bleichen Tierschädel an den Dattelstämmen, die schwarzen Schildkröten, die sich so flink beim Nahen eines Menschen kopfüber in das hier kaffeebraune Wasser zu kugeln wussten, da einen schönen jungen Araber sinnlos berauscht in einem Blumenbeet, die leere Kognakflasche noch krampfhaft mit der Hand umspannend — das Ergebnis europäischer Zivilisation —, und da scheu als Wilddiebe schleichend ein paar abgerissene Tagelöhner aus der Stadt, das Messer im roten Gurt, einen geblendeten kleinen Lockvogel im Käfig über der Schulter und alle Taschen ihrer schmutzigen Röcke und Hosen voll von gemordeten kleinen Sängern. Die Kerle wussten wohl, warum sie jetzt erst, bei Einbruch der Dunkelheit, sich zurückwagten. Es dämmerte immer stärker, und Sidi Frank drehte endlich auch um. „Wir müssen uns eilen!“ sagte er zu Yvonne. „Bei Nacht findet sich kein Mensch aus diesem Labyrinth mehr hinaus!“
Sie bejahte. Hastig stieg und stolperte sie hinter ihm her — denn der Weg war zu schmal, als dass man nebeneinander gehen konnte — und sah zwischen den Palmwedeln schon die ersten Sterne schimmern und die Zitronenbäume immer unheimlicher im Dunkel leuchten und wunderte sich auf einmal, wie sie dazu kam, hier mit einem unbekannten Mann als sein getreuer Wandergesell bei Nacht und Nebel durch Afrika zu ziehen.
Still, den Kopf nachdenklich gesenkt, folgte sie ihm aus dem Wald hinaus, in das Freie und in die da noch herrschende Helle des Zwielichts.
Die Luft war hier schwül, von Staub gesättigt. Und in diesem Staub kauerten überall Gruppen zimtbrauner Araber aus dem Volke in weissen Mänteln und Kapuzen, die Tintenflecke einiger Negergesichter dazwischen, und machten Feierabend in dem flüsternden, langsamen Gespräch der Wüste, das den an europäischen Lärm gewöhnten Ohren immer wie das Gemurmel einer Verschwörerschar klang. Ab und zu raffte sich einer auf, machte sein Salem — sein Abschiedszeichen mit der Hand von der Stirne zur Brust — und wandelte, in seinen gelben Pantoffeln schlurfend, heimwärts zu Weib und Kind.
Und unter diesen Hausvätern war auch ein vornehmer, überall durch Erheben der anderen aus ihrer Hockstellung, durch einen Zuruf, von Vertrauteren durch einen Kuss auf die rechte Schulter begrüsster Mann, ein jovialer, magerer Weissbart mit einer Brille, die ihm das Aussehen eines gelehrten Mönches gab. In der herabhängenden Linken trug er einen zappelnden Hahn an den Beinen. Den hatte er auf dem Markte gekauft und brachte ihn als Braten den Seinen mit.
„Da ist ja der Mufti!“ sagte Sidi Frank lebhaft. „Nun kann er uns ja Auskunft geben!“
Damit trat er auf den islamitischen Gottesmann zu und begrüsste ihn. Tahar ben Belgassem, der Mufti, blieb wohlwollend lächelnd stehen. Eigentlich hätte er lieber seinen Weg fortgesetzt. Sein Tagwerk war zu Ende. Er hatte dem Kadi Dschilani ben Habib, diesem ewig Unwissenden, diesem weltlichen Araberrichter der Regierung, einen schwierigen Streitfall auf geistliche Art, an der Richtschnur des Korans, erläutert — er hatte sich dann, Mohammeds Vorschrift gemäss, im feigenbaumüberschatteten, brunnensprudelnden, von Tauben durchgurrten Vorhof der Moschee Hände und Füsse gewaschen und dann innen, das Antlitz gen Osten, zu Allah gebetet. Nun wollte er seine Ruhe. Aber Frank war ein Mann, der bei den Eingeborenen besondere Achtung genoss. Und so gab denn auch Tahar ben Belgassem bereitwillig Auskunft auf die arabische Frage des anderen.
„Der Mufti erzählt mir, der Fremde stände vor dem Tor der Zitadelle und warte auf Ihre Rückkehr!“
Man brauchte nur um die Ecke der Römerfeste zu biegen, so war man dort und stand ihm gegenüber. Einen Augenblick nur zauderte Yvonne Roland. Dann sagte sie finster und entschlossen: „Also los!“ Sie nickte dem Mufti leicht dankend zu und schritt so energisch aus, dass ihr Gefährte kaum Zeit hatte, sich mit der umständlichen Höflichkeit des Orients von dem Moslem zu verabschieden.
Aber auf dem Platz vor der Kasbah verlangsamte sie ihre Schritte wieder. Mitten auf ihm harrte ihr Verlobter.
Sie fasste rasch die Hand ihres Begleiters, schüttelte sie im Gehen und bat leise: „Also gute Nacht für heute!“ Er merkte, dass er sie nun allein mit dem Fremden lassen müsse. Sie hatte haltgemacht. Er ging weiter, an dem anderen vorbei, der auf das junge Mädchen zuschritt. Eine Sekunde schauten sich, während sie sich trafen, die beiden Männer gegenseitig, ohne zu grüssen, ins Auge — scharf — prüfend —, und die ersten Funken dumpfer Feindseligkeit sprangen in diesem Blick von einem zum anderen über, wie das Aufblitzen von Plänklerschüssen vor schweren Kämpfen im Feld. Dann setzte der Jäger, ohne sich noch einmal umzudrehen, seinen Weg fort, und Monsieur Wallot näherte sich Yvonne.
„Aber Yvonne!“ sagte er, die ihm willenlos überlassene Hand ergreifend, statt der Vegrüssung in einem Tone schonenden Tadels. „Liebste Yvonne ... ich hatte doch eigentlich auf ein anderes Wiedersehen gehofft! Du machst ja wirklich ein Gesicht, als sähest du irgendein Schreckgespenst statt deines Bräutigams! Nicht einmal Vorwürfe will ich dir machen! Geschehen ist nun einmal geschehen! Jetzt handelt es sich nur darum, vernünftig zu sein — was du bisher nicht warst, liebe Yvonne — im Gegenteil — diese abenteuerliche, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch unternommene Reise hierher ... nun, Schwamm drüber ... ich kann das nur mit deiner vollkommenen Weltunkenntnis entschuldigen ... ein Glück, dass dir wenigstens nichts passiert ist und ich dich heil und gesund treffe ... aber mager bist du geworden, Ärmste ... und braun ...“
Seine letzten Worte hatten weicher geklungen. Und nun fand auch sie endlich die Sprache wieder. „Du kannst überhaupt noch gar nicht hier sein!“ stiess sie erbittert und verwirrt heraus. „Es ist ganz unmöglich! Ich habe mir alles genau ausgerechnet! Die Schiffe von Marseille gehen doch nur ...“
„Und über Italien kann man nicht fahren und von Sizilien den Katzensprung nach Tunis herüber und von Susa aus, wo du mit einem Maultierkarren gefahren bist, mit einem Automobil im Hui durch die Steppe?“ fragte er lachend. „Du hast doch nicht Fieber?“ forschte er.
„Nein — ich bin ganz gesund!“
„Ja — aber warum zitterst du dann so?“
Sie schwieg. Die Antwort war für ihn deutlich genug. Sie hiess: Vor dir! Er nahm sich zusammen, um freundlich besorgt zu erscheinen, und sagte lebhaft und bestimmt: „Es liegt doch wirklich gar kein Grund vor, Yvonne ... es ist ja für mich so peinlich — betrübend, ja: direkt betrübend — schon in Strassburg hab’ ich in letzrer Zeit bemerkt, dass du Angst vor mir gehabt hast ... ja — wenn ich noch ein Wüterich wäre — aber ich bin doch ein umgänglicher Mensch — und wenn jemand gegenüber, dann dir, die ich