»Innovatives Organisationsdesign?« Nemecek blieb seiner skeptischen Linie treu. »Große Worte. Fragt sich, was da tatsächlich dahintersteckt.«
»Offenbar geht es um die Gestaltung von Unternehmen, die einerseits nahe am Markt sind und andererseits attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Einfach gesagt: Kunden- und Mitarbeiterorientierung so miteinander verbinden, dass man möglichst rasch und flexibel agieren kann.«
Nemecek schürzte die Lippen. »Das sollten wir uns wirklich noch genauer anschauen.«
Obermayr steckte ihr Tablet in die Tasche zurück. »Doch bevor wir uns in diese ganzen Klugheiten vertiefen, dürfen wir hoffentlich mal in den See springen.«
»Jawolle, Frau Holle«, bekräftigte Nemecek mit ungeahntem Schwung. Bis ihm gleich darauf einfiel, dass ihr Kollege Bialek keine 24 Stunden zuvor genau dieselben Worte gebraucht hatte.
Donnerstag, 17:44
Gepflegte Arschbomben
»Achtung, Achtung!«, rief Lea, während sie im Vollsprint auf die Stegkante zuraste. »Arschbombeeee!« Ihr Schlachtruf endete mit einem lauten Klatschen und einer eindrucksvollen Wasserfontäne. Das darauf folgende Geschrei machte deutlich, dass Nemeceks ältere Tochter ihre Ankündigung perfekt umgesetzt hatte. Wie von der Tarantel gestochen sprangen ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sophie sowie deren Freundinnen Lydia und Klara auf und rissen ihre Handtücher vom Steg. Die dunkle Färbung des Holzes dokumentierte eindrucksvoll, wie gut Leas Paradesprung gelungen war.
»Leaaaa!«, empörten sich die drei Mädchen lauthals, während sie leicht panisch über ihre Smartphones wischten.
»Na warte«, verkündete Sophie gleich darauf mit erhobener Faust. »Das wirst du büßen!«, sekundierte Lydia und auch Klara zeigte mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie ihr am liebsten den Hals abschneiden würde.
»Ihr kriegt mich eh nicht«, heizte die große Schwester noch weiter an. Das konnten sich die drei Arschbombenopfer selbstverständlich nicht gefallen lassen. Zuerst der heimtückische Angriff und jetzt auch noch Spott! Kaum, dass sie ihre Strandsachen in Sicherheit gebracht hatten, nahmen sie die Verfolgung auf.
»Racheeee!«, versprach Sophie, bevor sie sich fast zeitgleich mit ihren Freundinnen in den See stürzte. Zu dritt jagten sie nun die Übeltäterin, die wohlweislich bereits ein Stück weiter hinaus geschwommen war.
Schmunzelnd verfolgte Nemecek die turbulente, von spitzen Schreien und lautem Gelächter begleitete Jagd. Blitzlichtartig flammten Erinnerungen an die eigene Kindheit auf, in der er sich mit seinen Freunden ausgedehnte Wasserschlachten geliefert hatte. Das waren noch Zeiten gewesen, als Sebastian Neufeldner, Rudolf Pokorny und er fast den ganzen Sommer an der alten Donau verbrachten!
»Eine wilde Bande, oder?«, holte Bettina ihn aus seiner sentimentalen Reise wieder in die Gegenwart zurück.
»Ja. Die Kids wissen halt, wie man den Sommer genießt!«
»Tust du das etwa nicht?«
Irritiert blickte Nemecek zu seiner Frau. »Doch, natürlich«, beteuerte er rasch. Auf das alte Thema, dass er die Arbeit nicht aus dem Kopf bekam, hatte er jetzt wirklich keine Lust. »Ich bin froh, dass ich mal zum Lesen komme.«
»Was liest du denn?«
»Ach, ein bisschen dies, ein bisschen das.«
»Soso.« Bettina war deutlich anzumerken, dass ihr die ausweichende Antwort ihres Mannes nicht schmeckte.
Wenn Nemecek ehrlich gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, dass seine Gedanken in der letzten Stunde ständig zu Marco Joschak gewandert waren. Wie war er ums Leben gekommen? Was genau war passiert? Warum ertrank jemand, der als ausgezeichneter Schwimmer galt? Nemecek versuchte den Gedanken an den Mordvorwurf von Marina Joschak abzuschütteln, der war jedoch klebrig wie einer dieser altmodischen Fliegenfänger.
Um sich abzulenken, hatte er sich das von Zukic zusammengestellte Dossier vorgenommen. Die vorliegenden Fakten waren rasch abgehakt. Doch dann blieb er längere Zeit bei dem Interview hängen, das der neue Vorstand der Acros für dieses Wirtschaftsmagazin gegeben hatte – und entdeckte daraufhin sogar einen Artikel, der in einem Sammelband zu Die Zukunft der Unternehmen veröffentlicht wurde. In beiden bot Pflückinger starke Kernbotschaften: Von veränderten Anforderungen war da die Rede, von der konsequenten Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden, von der Fähigkeit, rasch auf veränderte Wünsche zu reagieren, und der Notwendigkeit, entsprechend bewegliche Prozesse zu gestalten. Die wichtigste Aufgabe des Managements ist die Gestaltung geeigneter Rahmenbedingungen, schrieb Pflückinger an einer Stelle. Manager sind heutzutage viel weniger als Verwalter denn als Gestalter gefragt. Business-Designer statt Business-Administratoren.
Nemecek musste zugeben, dass das alles ziemlich interessant klang – und ihn einmal mehr in die Zeit zurück katapultierte, als sie in der SafeIT im Mordfall Paul Steiner ermittelt hatten. Damals hatte er sich ja auch schon mit den Phänomenen Agilität, Selbstorganisation und Führung beschäftigt. Er erinnerte sich noch gut, dass er dazu einiges gelesen und sich viele Notizen gemacht hatte. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo seine Notizbücher von damals abgeblieben waren. Wäre sicherlich interessant, noch einmal nachzulesen, was er sich damals dazu aufgeschrieben hatte. Schließlich hatte ihm sein früherer Chef und Mentor Josef Kallinger jahrelang eingeschärft, dass man den Kontext klären musste, wenn man die Textur eines Verbrechens erkennen wollte. Bislang hatte sich dieses Credo noch in jedem Fall bewahrheitet. Ohne die genauen Umstände erhellt zu haben, waren weder das Motiv noch die Mittel eines Mordes zu entschlüsseln. Geschweige denn die Gelegenheit, die der Täter für seinen tödlichen Anschlag genutzt hatte. Was ihn einmal mehr auf die alles entscheidende Frage zurückwarf, ob sie es in der aktuellen Situation überhaupt mit einem Mordfall zu tun hatten. Und, falls ja, welche Rolle dabei die Themen spielten, über die Pflückinger sprach. Hatte Joschaks Tod überhaupt etwas mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun? Spielte es eine Rolle, dass er als Manager tätig war? Und wenn ja, lag das Motiv möglicherweise in den Veränderungsprozessen begründet, die die Acros gerade durchlief?
Ohne es zu wollen, zuckte Nemecek mit den Schultern. Zweifellos war es noch zu früh, um darauf schlüssige Antworten liefern zu können. Bis es so weit war, konnte er immerhin sein Verständnis über die neue Arbeitswelt vertiefen. Dementsprechend entschlossen klickte er auf einen weiteren Link auf seinem Tablet.
»Wir sollten uns allmählich eingestehen, dass wir diese neue Welt niemals mit unseren alten Landkarten bewältigen können.« (Meg Wheatley)
Nemecek setzte den Stift ab. Diese Verbindung von Welt und Landkarte gefiel ihm – nicht zuletzt, weil sie auch einiges mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun hatte. Sie weckte Erinnerungen an legendäre Diskussionen, die sie in der Familie bei Wanderungen regelmäßig hatten. Einmal war Lea sogar wutentbrannt in den Wald gelaufen, nachdem sie als Navigationsverantwortliche lautstark infrage gestellt wurde. Damals waren sie noch mit echten Wanderkarten unterwegs gewesen, aus Papier und so trickreich gefaltet, dass Nemecek sich regelmäßig verhedderte. Statt einer kompakten Mappe glichen die von ihm zusammengelegten Karten eher einem unförmigen Stapel Papier.
Die Karte in ihrer Hand hinderte Lea damals freilich nicht daran, die gesuchte Abzweigung gleich zweimal zu verpassen. Während die ganze Wandergruppe im Kreis lief, mehrte sich der Unmut der anderen Kinder, die schon länger über Hunger klagten und am liebsten den direkten Weg zur Jausenstation eingeschlagen hätten. Lea schwor natürlich Stein und Bein, dass dies der richtige Weg war. Nemecek stellte fest, dass es auf der Karte genau danach aussah. Umso größer war die Überraschung, als sie später im Biergarten entdeckten, dass es sich gar nicht um eine Karte des Anninger handelte, auf dem sie unterwegs waren, sondern um eine des benachbarten Prielstein!
Die ganze Geschichte war letztlich halb so wild, schließlich war ihnen die Umgebung vertraut.