In solchen Augenblicken war es nicht leicht, Reitlehrerin zu sein. Ich nahm Organdies Zügel und schwang mich in den Sattel.
„Sieh mal genau zu. Ich fange ganz ruhig mit einem kurzen Trab an. Ich lasse das Pferd schneller werden. Dann achte ich darauf, daß das Gebiß im Maul beweglich bleibt. Sonst sind die Zügelhilfen zu hart, und das Pferd versucht auszubrechen. Jetzt verfalle ich in einen verhaltenen Galopp. Ich sitze ruhig im Sattel und achte immer wieder auf die Beweglichkeit des Gebisses.“ Organdie beruhigte sich allmählich. Wir galoppierten noch einige Runden.
„Hast du alles verstanden?“ fragte ich.
Das Mädchen nickte. „Ja. Aber ich kann es trotzdem nicht.“
„Das weiß ich“, antwortete ich. „Es genügt nicht, daß jemand einem erklärt, wie man es macht. Reiten kann man nur auf eine Art lernen: Man muß reiten und nochmals reiten. Bis man schmiegsam im Sattel sitzt, bis man die Hilfen richtig anwendet, bis man weiß, wie das Pferd, das man reitet, behandelt werden will … Verstehst du, was ich meine?“
„Schon. Aber es dauert tausend Jahre, bis ich das kann“, seufzte die Kleine niedergeschlagen.
„Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, tröstete ich sie.
Billy bereitete mir noch mehr Kummer als Organdie. Ich mußte ihn oft reiten und ihm eine Lektion erteilen, wenn er wieder ein armes Kind abgeworfen hatte. Billy hatte sich in den Kopf gesetzt, alle seine Reiter auf ihr Können zu prüfen. Wenn er seinen Reiter nicht gleich beim ersten Versuch loswurde, gab er manchmal auf und verhielt sich lieb und brav bis zum Ende der Reitstunde. Aber meistens gab er sich die größte Mühe, meinen Unterricht zu sabotieren.
Patrik und Rauhbein waren geduldig. Mit Kurre hatte ich auch keine großen Schwierigkeiten. Allerdings war er ein launischer Nordschwede. Er konnte furchtbar dickköpfig und ungehorsam sein.
Während ich mich täglich mit dem Unterricht abmühte, näherte sich Weihnachten mit Siebenmeilenstiefeln. Die Mädchen, die uns als Stallknechte halfen, schmückten den Stall. Sie wetteiferten miteinander. Jede wollte, daß ihr Pferd die schönste und festlichste Box hatte. Sie hängten Glöckchen auf und befestigten Tannenzweige mit Lametta. Auf die Namensschilder klebten sie rote Heinzelmännchen.
Ann half mir, Silbers Box zu schmücken. Sie hängte zwei große, runde Brotkuchen an rote Seidenbänder über die Tür. Frohe Weihnachten, Silber! hatte sie mit roter Glasur darauf gemalt.
„Am Weihnachtsabend schenke ich sie ihm“, erzählte sie stolz.
Der Gedanke an den Weihnachtsabend stimmte mich ein bißchen traurig. Ich würde nicht hier sein. Ann mußte sich allein um Silber kümmern. Ich feierte Weihnachten zu Hause bei meinen Eltern, meiner Schwester Nirre und meinem kleinen Bruder Lasse. Eigentlich war die Reitschule mein Zuhause. Ich hatte mich schon so daran gewöhnt, mein eigenes Leben zu leben.
Es fiel mir schwer, Weihnachtsgeschenke auszusuchen. Ich war so lange von meiner Familie weg, daß ich keine Ahnung hatte, was sie sich wünschten.
Wenige Tage vor Weihnachten fuhr ich in die Stadt. Die Straßen und die Geschäfte waren voller Menschen. Wie sollte ich in diesem Gewühl Geschenke finden? Plötzlich entdeckte ich eine herrliche, cremefarbene Jacke mit einem großen Polokragen. Sie mußte Lasse – ich meine natürlich nicht meinen kleinen Bruder, sondern dem Lasse – zu seinen dunklen Haaren wunderbar stehen. Es wäre verrückt, die Jacke zu kaufen. Sie war viel zu teuer. Und außerdem würde ich nie den Mut aufbringen, sie ihm zu schenken …
Lasse fuhr Weihnachten auch zu seinen Eltern. Er hatte versprochen, mich in seinem Auto mitzunehmen. So mußte ich nicht viele Stunden in einem überfüllten Zug verbringen. War das nicht Grund genug, ihm die Jacke zu schenken? Schnell entschlossen wandte ich mich an einen Verkäufer. So entstand ein tiefes Loch in meinem Geldbeutel.
Mit meinem ersten Weihnachtspaket unter dem Arm stieg meine Laune. Die Geschäfte schienen jetzt voller Geschenke für meine Eltern und für meine Geschwister zu sein.
Das Einkaufen machte mir jetzt richtig Spaß. Und als ich alle Weihnachtsüberraschungen beisammen hatte, ging ich erleichtert und fröhlich nach Hause.
Eine besondere Weihnachtsüberraschung
„Versorgst du Silber auch gut?“
„Jaaaa doch“, versicherte Ann.
„Wenn etwas passiert, mußt du mich sofort anrufen. Versprich mir das.“ Ich gab ihr einen Zettel mit meiner Telefonnummer. „Wenn du irgendwelche Probleme hast, kannst du dich jederzeit an Kicki, Thomas oder Hasse wenden.“
„Jaaaa doch“, versicherte Ann noch einmal. „Aber was sollte ich in den paar Tagen für Probleme haben?“
Ann stand mit Striegel und Kardätsche in der Stalltür und strahlte über das ganze Gesicht. Ihr kam es vor, als wäre Silber ganz besonders gut zu pflegen. Ich brauchte mir wirklich keine Sorgen zu machen. Außerdem wollte ich noch vor Silvester zurückkommen.
„Also dann … Adieu! Und fröhliche Weihnachten.“ Ich wäre am liebsten im Stall geblieben.
„Adieu! Fröhliche Weihnachten.“
Ann winkte mir mit der Kardätsche nach. Ich ging zum Auto, in dem Lasse auf mich wartete. Meine Reisetasche hatten wir schon im Kofferraum verstaut, und meine Weihnachtspakete lagen neben Goldie auf dem Rücksitz. Lasse öffnete mir die Tür. Ich trug meinen dunkelblauen Hosenanzug, der mir besonders gut stand. Meinen Kopf wärmte eine herrliche, große, graue Angoramütze, und über meiner Schulter hing eine handgewebte, indische Tasche, die ich in einem winzigen Laden erstanden hatte.
Es machte Spaß, zur Abwechslung einmal sauber und schick angezogen zu sein. Die meisten Menschen trugen jeden Tag saubere, ordentliche Kleidung und kannten nicht die Bequemlichkeit alter, verwaschener Jeans. Sie kamen auch nie in die Nähe eines Stalls, der ausgemistet werden mußte oder eines Ponys, das gestriegelt werden wollte. Ich konnte solche Menschen nur bedauern.
„Was sagst du?“ fragte Lasse und bog in eine schmale Landstraße ein.
„Ach nichts. Wahrscheinlich habe ich laut gedacht … Wer kümmert sich eigentlich um Cayenne?“
„Mein Onkel. Er hat versprochen, ihn jeden Tag für ein paar Stunden auf die Koppel zu bringen.“
„Dann hat er ja genug zu tun. Das Rehlein erfordert bestimmt auch ziemlich viel Arbeit.“
„Ums Rehlein kümmert sich meine Tante“, berichtete Lasse. „Sie hat das Kleine so in ihr Herz geschlossen, daß sie sich das nicht nehmen läßt. Diese Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit. Nach Goldie mag Rehlein am liebsten meine Tante.“
„Und was wird aus Rehlein, wenn es wieder ganz gesund ist?“ erkundigte ich mich.
„Darüber haben wir bisher noch nicht gesprochen“, antwortete Lasse. „Freilassen können wir es wahrscheinlich nicht. Das Rehlein hat die Angst vor den Menschen verloren. Es würde zutraulich dem ersten besten Jäger direkt in die Kugel laufen. Meine Tante möchte es behalten. Sie findet, wir haben Platz genug. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß mein Onkel damit einverstanden sein wird.“
„Hat er immer noch vor, im Frühjahr Zuchtstuten zu kaufen?“
„Das weiß man bei ihm nie so genau. Er spricht wenig darüber.“
Es war herrlich, mit Lasse zu verreisen. Wir hatten uns so viel zu erzählen.
„Hast du eigentlich nie daran gedacht, dir einen Hund anzuschaffen?“ wunderte sich Lasse.
„Doch, oft. Aber ich fürchte, ich habe zuwenig Zeit. Ein Tier muß man richtig erziehen.