„Schlachtfelder der Zukunft!“ sagt Pawel ernst. „In diesen Steppen wird vielleicht einmal die große Entscheidung fallen.“
*
Gegen drei Uhr nachmittags dreht der schweigsame Burjäte sich um, deutet mit dem Peitschenstiel auf eine kleine, langgestreckte Erdwelle, die weit voraus aufgetaucht ist, und radebrecht ein paar russische Worte. Zehn Minuten später sieht Helle: Das da vorn ist eine Feldstellung. Über dem kleinen Erdwall tauchen flache Soldatenmützen auf. Ein Arm winkt „Halt!“ herüber. Dann klettern drei, vier kleine, in Mäntel gehüllte Soldaten über die Erdbrüstung und nähern sich dem Karren.
„Sie reisen unter Eskorte nach Charbin!“ entscheidet der japanische Leutnant, der die Vorpostenstellung befehligt. „Das dortige Kommando wird entscheiden, ob Sie Ihre Reise nach Irkutsk fortsetzen können.“
In dem kleinen Unterstand muß Pawel noch einmal genau den Überfall schildern und angeben, wo ungefähr sich das Hauptquartier der Räuberbande befindet. Aber schließlich macht der Japaner eine resignierte Handbewegung. „Es hat wenig Zweck für uns, dorthin vorzustoßen. Die Bande ist bestimmt längst davon und hat einen andern Schlupfwinkel aufgesucht. Bitte, machen Sie sich fertig zur Weiterreise!“
Diesmal ist es ein schon etwas altes Auto, auf dem Pawel und Helle sowie ihr Gepäck verladen werden. Zwei japanische Soldaten nehmen mit ihnen Platz. Sie lächeln vergnügt, denn eine Fahrt von dieser einsamen Feldstellung bis nach Charbin bedeutet für sie eine unerwartete und willkommene Abwechslung.
Viel gibt der Wagen nicht her, aber es geht doch bedeutend schneller als vorher auf dem Burjätenkarren. Am Mittag des zweiten Tages erreichen sie die Lehmmauern der Stadt Charbin und werden durch menschengefüllte, halb chinesische, halb westlich-moderne Straßen zu dem weißen Steingebäude des Generalkommandos geführt.
Im japanischen Generalkommando in Charbin gibt es ein stundenlanges Warten in einem Vorraum. Offiziere eilen bin und her, Ordonnanzen, Kraftfahrer kommen und gehen, würdevolle Beamte des jungen Staates Manchukuo wandern langsam und bedächtig durch den Vorraum und verschwinden hinter einer der vielen Türen. Auch ein europäisches Gesicht taucht plötzlich auf. Ein Herr in Knickerbockers und Sportmütze, einen Fotoapparat umgehängt, kommt aus einem der Büros, stutzt beim Anblick Pawels und Helles und macht Miene, sie anzusprechen. Ein freundlich lächelnder japanischer Wachtoffizier vertritt ihm jedoch unauffällig den Weg und sagt verbindlich einige englische Sätze. Der Journalist muß mit einem enttäuschten Achselzucken seine Absicht aufgeben, die junge europäische Dame da zu interviewen.
Endlich wird Pawel Karlowitsch aufgefordert, in eines der Büros hinüberzukommen. Helle muß weiter warten. Es dauert sehr lange, fast eine volle Stunde, bis Pawel in Begleitung eines Leutnants zurückkommt.
„Darf ich bitten, Madam!“ sagt der Offizier in englischer Sprache, und Pawel nickt der sich zögernd Erhebenden zu: „Ich warte natürlich hier auf Sie!“
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Zu Helles Erleichterung spricht der japanische Hauptmann, der hinter dem großen, mit Papieren und Karten bedeckten Tisch sitzt, tadellos Deutsch. Er mustert eingehend Helles Reisepaß, besonders das japanische Visum und den Vermerk des russischen Paßamtes in Tokio, und ersucht sie dann höflich, ihm genau und ausführlich die Geschichte des Eisenbahnüberfalls zu erzählen. Als sie geendet hat, nickt der Offizier.
„Ihre Aussagen decken sich mit denen Ihres vorhin vernommenen Begleiters. Sie stimmen auch überein mit der Meldung, die wir bereits gestern erhielten, nämlich, daß eine Räuberbande einen unserer Geheimagenten ermordet und sein Gepäck geraubt hat.“
„Der arme Mensch, den sie tot aus dem Zuge trugen, war also ...
„Ein Offizier unseres erhabenen Tenno! Der ganze Überfall hat wahrscheinlich nur ihm gegolten. Sie, meine Dame, hat man nur mitgenommen, weil man hoffte, von Ihnen ein besonders hohes Lösegeld erpressen zu können.“
„Und doch hat man mich freigelassen?“
Der Japaner lächelt wissend. „Die Banditenhorden hier an der Grenze arbeiten meist Hand in Hand mit den Russen, oft genug sogar im Auftrag der fernöstlichen Armee. Was mir Ihr Begleiter über die Art erzählte, wie er Ihre Freilassung erwirkt hat, erscheint mir nicht glaubhaft, zumal ...“ Ein listiges Blinken ist in den Augen des Offiziers. „Nun, vielleicht hat Herr Gentzer noch eine ganz andere Autorität geltend machen können. Er ist Russe, steht in Verbindung mit der fernöstlichen Armee!“
„Ah! Sie halten ihn für einen russischen Agenten?“
Der japanische Offizier spreizt die Finger. „Wenn wir den geringsten Beweis dafür hätten, würden wir ihn natürlich als Geisel für unsern ermordeten Kameraden hier festhalten. Ich glaube indessen nicht, daß er mit dem Überfall direkt etwas zu tun hat. Wie Sie mir sagen, hat Herr Gentzer ja selbst veranlaßt, daß Sie den nächsten japanischen Wachtposten aufsuchten und sich dort meldeten.“
„Ja, das hat er!“
„Nun, er würde dies nicht getan haben, wenn er an dem Mord unseres Kameraden mitschuldig wäre. Aber verdächtig ist er darum doch. Bitte, bedenken Sie, meine Dame: Herr Gentzer hat durch eine einfache Unterredung, ohne Anwendung von Lösegeld, Ihre Freilassung erreicht.“
„Sie haben recht,“ sagt Helle nachdenklich. „Auch vor dem Überfall kam es mir schon vor, als ob er mich auszuhorchen versuchte. Aber trotzdem: Ich bin ihm zu Dank verpflichtet. Ohne ihn wäre ich jetzt noch in der Gewalt der Banditen.“
Der Japaner machte eine kleine Verbeugung. „Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Die letzte Entscheidung trifft General Doihara, aber ich glaube Ihnen jetzt schon versichern zu können, daß von unserer Seite aus Ihrer Weiterreise nichts im Wege steht. Aber — ganz außerdienstlich möchte ich Ihnen zu bedenken geben: Wollen Sie wirklich nach dieser bösen Erfahrung Ihre Reise nach Irkutsk fortsetzen? In Begleitung dieses Herrn Gentzer?“
„Wenn ich an Ihrer Stelle wäre,“ fährt der Japaner fort, als Helle betroffen schweigt, „so würde ich den Plan vorläufig fallen lassen. Ihr Herr Bruder ist noch in Tokio, nicht wahr? Da würde ich an Ihrer Stelle von hier aus erst mal nach Tokio zurückkehren. Setzen Sie sich von dort aus doch mit Ihrem Bräutigam brieflich in Verbindung. Vielleicht können Sie ihn veranlassen, Ihnen entgegenzureisen, Sie in Wladiwostok in Empfang zu nehmen.“
Helle sieht schweigend vor sich hin. Was der Japaner da sagt, ist nicht schlecht. Einen Herzschlag lang hat sie sogar das Gefühl, als böte ihr hier das Schicksal noch einmal warnend die Hand. Aber dann überwiegt in ihr wieder der Trotz. Was werden Heinz und die „Jungs“ in Tokio für Gesichter machen, wenn sie jetzt zurückkehrt! Vorwürfe wird es regnen, Klagen, Spott. Wir haben dich ja gleich gewarnt! Warum bist du so bockig! Und dann — wie lange wird es dann dauern, bis sie die Verbindung mit Irkutsk aufgenommen hat! Am Ende wird gar Kola selber ihr besorgt abraten von der Reise, und sie kann unverrichteter Sache mit Heinz nach Berlin zurückfahren. Jetzt, wo sie nur ein paar Tagereisen vom Ziel steht.
„Ich danke Ihnen, Herr Hauptmann!“ sagt Helle, entschlossen den Kopf hebend. „Ich möchte trotzdem meine Reise fortsetzen!“
„Wie Sie wünschen! Ich werde dem Herrn General Vortrag halten.“
Helle sitzt allein in dem Büro und starrt auf die Tür, hinter der der Offizier verschwunden ist. Der Name „General Doihara“ ist ihr kein Begriff. Sie entsinnt sich zwar dunkel, diesen Namen schon einmal irgendwo in einer Zeitung gelesen zu haben, aber sie weiß nicht, daß hinter der Tür dort der Mann sitzt, der die Politik Japans in Manchukuo und Korea lenkt, der Mann, bei dem alle Fäden des großen, weitverzweigten Spiels zusammenlaufen: General Doihara.
Sporenklirrend kommt der kleine gelbe Hauptmann zurück. Sein Gesicht strahlt vor Freundlichkeit.
„General Doihara läßt