„Man gewöhnt sich daran,“ sagt Pawel Karlowitsch achselzuckend, als Helle zum dritten Male ihren kostbaren Reisepaß eingesteckt hat. „Hier in Fernost lebt man seit Jahren sozusagen im Kriegszustand. Es ist kein reines Vergnügen, mit der transsibirischen Bahn zu reisen.“
Helle kuschelt sich behaglich in die Polster. „Aber sehr elegant sind die Wagen hier, das muß man gestehen. Ich hätte das kaum erwartet.“
Pawel Karlowitsch zieht ein etwas spöttisches Gesicht. „Nun, es gibt auch andere Wagen. Ich würde Ihnen nicht raten, in der dritten Klasse zu reisen. Aber das war schon früher so in Rußland. Hochelegante, bequeme Wagen für die wohlhabenden Fremden und schmutzige, vollgepfropfte „Maximkas“ für diejenigen, die nicht zahlen können. Darin hat sich bei uns nicht viel geändert.“
„Und Sie leben also immer hier in Sibirien, Herr — Verzeihung: Genosse Gentzer?“
Pawel Karlowitsch lächelt gutmütig. „Von mir aus können Sie mich nennen, wie Sie wollen. Aber ich rate Ihnen, sich ganz allgemein den amtlichen Ausdruck ‚Towarischtsch‘ im Gespräch mit jedermann anzugewöhnen, solange Sie in Rußland sind. Man macht sich sonst leicht verdächtig, ausgenommen, wenn man einen Kommissär oder Offizier versehentlich mit dem verpönten ‚Herr‘ anredet.“
„Danke. Ich werde es mir merken.“
„Ja, ich lebe in Fernost,“ fährt Pawel Karlowitsch fort, „und bedeutend lieber als in Moskau oder Leningrad. Hier sind die Lebensmittel billiger.“ Er wartet gar keine Frage seiner Reisegefährtin ab, sondern beginnt sofort, ausführlich seine Verhältnisse auseinanderzusetzen.
„Mein Vater war einer der deutschen Pioniere hier in Sibirien, schon im Anfang des Jahrhunderts eingewandert. Er betrieb ein Sägewerk am oberen Jenissei. Als der Krieg ausbrach, versuchte er, nach Hause zu gelangen, um seine Pflicht als Soldat zu erfüllen. Man holte ihn aus dem Zug und internierte ihn. Als er auch aus dem Internierungslager floh und verfolgt wurde, verbarg ihn eine junge deutschstämmige Frau auf ihrem Bauernhof. Sie wurde meine Mutter. Eines Tages war dann die Gefahr vorüber. In Rußland ging alles drunter und drüber. Aber — in Deutschland sah es nicht viel besser aus. Der Krieg war verloren, und als mein Vater von jenem Hexenreigen von Unwürdigkeit, Schmach und Schmutz erfuhr, der damals durch Deutschland tobte, blieb er, wo er war.“
„Ihre Eltern leben also auch hier in Sibirien?“
„Sie sind beide tot. Im großen Hungerjahr ... nun, reden wir nicht davon! Das ist vorbei. Mein Vater hatte den Bauernhof verkauft und dafür in Selenginsk, nahe bei der mongolischen Grenze, ein Sägewerk errichtet. Nach den bestehenden Gesetzen gehört es jetzt dem Staat, aber man hat mich trotz meiner Jugend zum Leiter ernannt, und so konnte ich bleiben. Zu klagen habe ich nicht. Meine Stellung ist praktisch vollkommen selbständig, denn die örtlichen Behörden in Selenginsk haben nicht viel Ahnung vom Holzgeschäft. Mit dem Gehalt hapert es zwar. Manchmal bleibt die Löhnung für meine Arbeiter und mich monatelang ganz aus. Nitschewo. Hier in Sibirien fühlt man das nicht so. Man hilft sich selbst, nimmt ein paar Schläge Wald und verkauft sie unter der Hand. Oder man geht auf die Pelztierjagd. Seitdem ich die Lieferungen für die fernöstliche Armee habe, Holzbaracken und so weiter, kann ich auch über das Geld nicht mehr klagen. General Blücher zahlt pünktlich. Ich war eben jetzt wieder in Wladiwostok, um über neue Lieferungen zu verhandeln. Aber nun bitte erzählen Sie auch, Genossin Beier! Was führt Sie denn mutterseelenallein nach Rußland?“
Einen Augenblick ist Helle daran, dem jungen, sympathischen Mann alles zu erzählen, aber dann überkommt sie die Erinnerung an all die Warnungen, die man ihr mit auf den Weg gegeben hat, und das Mißtrauen meldet sich. Dieser Pawel Karlowitsch verkehrte so sicher und selbstbewußt vorhin mit den kontrollierenden Beamten. Sie schienen ihn auch gut zu kennen, denn der Polizist warf kaum einen Blick auf seinen Ausweis. Wer weiß denn, ob dieser Pawel Karlowitsch nicht ein Agent ist, der sie zu überwachen und auszuhorchen hat?
„Ich reise nach Irkutsk, um meinen Verlobten aufzusuchen,“ sagt sie kühl.
„Oh, Sie haben einen Bräutigam in Irkutsk? Einen Deutschen? Dann müßte ich ihn eigentlich kennen.“
Helle merkt ganz deutlich, Pawel Karlowitsch wartet darauf, daß sie den Namen nennen und weitererzählen soll, und beschließt, ihm den Gefallen nicht zu tun. Auch ihr Reisegefährte scheint die absichtliche Zurückhaltung zu merken und schlägt ein anderes Thema an.
„Haben Sie viel Scherereien mit Ihrem Visum gehabt?“
„Gar keine. Man hat mir auf dem Tokioter Paßamt anstandslos die Einreise bewilligt.“
Pawel Karlowitsch zieht die Brauen hoch. „Das wundert mich eigentlich. Oder hatten Sie Empfehlungsbriefe? Ich meine: Konnten Sie sich auf jemand in Deutschland berufen, der — sagen wir mal — der Sowjetunion nahesteht?“
Es stimmt. Er will mich aushorchen! — denkt Helle belustigt und schüttelt den Kopf. „Ich habe mit derartigen Kreisen absolut keine Verbindungen.“
„Dann verstehe ich nicht recht ... Es ist für Deutsche sonst nicht leicht, Einreiseerlaubnis nach Fernost zu erhalten. Nach Moskau oder Leningrad schon eher. Hier oben hat man zu viel Angst vor Spionen.“
„Ich bin aber keine Spionin, Herr Gentzer!“
„Gewiß nicht. Aber es ist doch merkwürdig, daß man Sie so leicht einreisen ließ. Sie haben keine Ahnung, wie mißtrauisch die Behörden hier sind. Ich selber habe vor zwei Jahren auf Grund meiner nachweislich rein deutschen Abstammung um die Erlaubnis nachgesucht, meine Stellung aufzugeben und nach Deutschland auszuwandern. Was meinen Sie, was ich da erlebt habe! Wenn sich die örtlichen Behörden in Selenginsk nicht hinter mich gestellt hätten, säße ich heute an der Murmanküste oder in einem Gefängnis. Das Gesuch wurde natürlich glatt abgelehnt.“
Helle schürzt ein wenig die Lippen. „Warum wollten Sie denn nach Deutschland? Sie sind doch hier in Rußland geboren und kennen Deutschland gar nicht!“
„Das ist wahr.“ Pawel Karlowitsch macht ein nachdenkliches Gesicht. „Ich habe die Heimat meiner Eltern nie gesehen und fühle doch, daß es auch meine Heimat ist. Merkwürdig, nicht? Vielleicht kommt es daher, daß bei uns zu Hause immer nur deutsch gesprochen wurde. Aber ich ...“
Pawel Karlowitsch kommt nicht weiter. Ein harter Stoß läßt ihn fast vornüber von seinem Sitz fallen, und auch Helle fühlt ihren Kopf durch den plötzlichen Ruck schmerzhaft gegen die Rückwand schlagen.
Der Zug hält auf offener Strecke.
„Ein Unglück? Zusammenstoß?“ Unwillkürlich greift Helle wie hilfesuchend nach dem Arm ihres Begleiters. Pawel Karlowitsch hat das Gleichgewicht wiedergefunden und sich aufgerichtet. Seine Brauen sind finster zusammengezogen.
„Nein! Ein Überfall! Hören Sie nicht?“
Ja, jetzt hört Helle es auch. Irgendwo draußen hämmert ein Maschinengewehr in kurzen, trockenen Schlägen. Stiefel trampeln auf dem Kies des Bahndamms, kurze, scharfe Rufe in einer fremden Sprache.
„Vom Fenster weg!“ Pawel Karlowitsch reißt Helle, die unwillkürlich nach dem Öffner gegriffen hat, jäh zurück. „Ganz ruhig bleiben! Allen Befehlen Folge leisten! Haben Sie Juwelen bei sich?“
„Nein.“ Helle faßt erschrocken nach ihrem Handtäschchen. „Nur etwas Geld und einen Kreditbrief!“
„Um den kümmert sich die Bande nicht! Tun Sie genau, was ich tun werde!“
Es ist keine Zeit zu weiteren Erklärungen. Das Maschinengewehr draußen schweigt. Dafür sind im Zuge selbst erschrockene Stimmen laut geworden. Energische Schritte kommen den Korridor entlang. Abteiltüren werden aufgerissen.
„Ausweise!“
Ein großer, starkknochiger Mongole in einer unbestimmbaren, halb europäischen Militäruniform steht in der Abteiltür. Hinter ihm zwei gleichfalls militärisch uniformierte Gelbe, die schußbereite Gewehre in den Händen halten.