»Ich glaube, die hier wird mal ein Tagpfauenauge. Das sind die rostroten Schmetterlinge, die Muster auf den Flügeln haben, die wie die Augen auf den Schwanzfedern von Pfauen aussehen. Du hast schon welche gesehen, im Sommer sind immer ganz viele davon im Schmetterlingsflieder.«
Marianna nickte ernst, sodass der Pferdeschwanz auf ihrem Kopf tanzte. »Darf ich die behalten?«
»Nein, ich finde, du solltest sie wieder raus in den Garten setzen, sonst kann sie ja kein Schmetterling werden, nicht wahr?«
Das Handy klingelte erneut, sie schnappte nach Luft, stand schnell auf und schaltete es aus. Sie wusste, dass er es wieder war. Aus einem unerklärlichen Grund war sie sich sicher, dass es ein Mann war. Vielleicht lag es am Atmen. Marianna lief mit der Raupe in den Garten, Angolo begrüßte sie mit verspieltem Tanz. Rikke schaute ihnen nach und lächelte, dann wurde sie ernst.
»Hat sich schon wieder jemand verwählt? Mama, willst du mir nicht erzählen, was da vor sich geht? Wer ruft die ganze Zeit an? Ich habe oft an den Mord an der Sozialarbeiterin in Holstebro Anfang des Jahres gedacht. Deine Arbeit ist fast so gefährlich wie diejenige Papas, und …«
»Quatsch!« Irene drehte ihr den Rücken zu und kümmerte sich um die Töpfe, sodass sie Rikke nicht in die Augen sehen musste.
»Hast du Papa davon erzählt? Ich kann doch sehen, dass da etwas nicht stimmt.«
Sie wandte sich ihrer Tochter zu und schaute sie mit gespielter Zuversicht an. »Du musst dir keine Sorgen machen, Rikke, und das soll Papa auch nicht, er hat genug anderes um die Ohren. Das ist nur jemand, der sich verwählt hat. Basta! Hat Olivia gesagt, für wann sie die Hochzeit geplant haben?« Der Kummer über die schweigende Abstrafung, die sie da durch ihre jüngste Tochter erfuhr, ließ die Angst ein bisschen in den Hintergrund treten; es gab größere Sorgen als anonyme Anrufe. Olivia sollte derart wichtige Ereignisse in ihrem Leben ihrer Mutter und ihrem Vater anvertrauen und sie nicht mehr oder weniger unfreiwillig über ihre Schwester vermitteln.
Sie beschloss, morgen in Italien anzurufen. Wenn nur hoffentlich nicht Giuseppe ranging und wieder auflegte, sobald er ihre Stimme hörte.
4
Schnell hatte Roland den Tisch mit Tobias Abrahamsens Freunden entdeckt. Jeder hatte ein Glas frischgezapftes Bier vor sich stehen. Die Journalistin von TV 2 Ostjütland und Mikkel Jensen gaben ihm Winkzeichen, als er über die Brücke an der Immervad ging. Die Uhr an der Fassade des Kaufhauses Magasin zeigte fünf vor sechs. Essenszeit. Irene, Rikke und Marianna warteten jetzt zu Hause in der Villa in Højbjerg. Er öffnete die Jacke, der Schlips wehte ihm nach hinten über die Schulter. Es war einer dieser ersten Tage mit Vorgeschmack auf den Frühling, die nach einem rekordlangen und harten Winter nun höchst willkommen waren. Die Cafébesitzer fingen an, Hoffnung auf eine einträgliche Freiluftsaison zu schöpfen. Doch bisher hatten sich nur wenige Gäste an die Tische draußen gesetzt. Einzelne hatten vorsichtig die Jacke ausgezogen, aber sie hing griffbereit über der Stuhllehne. Noch vor wenigen Wochen waren die Fliesen eisglatt gewesen und es hatte hohe Schneewehen gegeben. Die Mitarbeiter der Stadt hatten Schwierigkeiten damit gehabt, die alten wegzuräumen, bevor sich neue auftürmten. Noch konnte man sich kaum vorstellen, dass Sonne und Wärme nun bald wieder die Vorherrschaft übernehmen würden.
Auf dem Tisch lagen DIN-A4-Handzettel mit dem Bild des Vermissten. Roland war bereits in der Strøget auf einige davon gestoßen, aufgehängt an Laternenpfählen und an Mauern. »Wo ist Tobias?«, stand dort über einem Privatfoto eines blonden, blassen jungen Mannes mit einem Zucken um den Mund; ein scheues Lächeln, das nicht herauswollte. Tobias sah nicht wie ein Achtzehnjähriger aus, sondern älter. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben und sein Vater hatte vor einem Jahr Selbstmord begangen. Das hatte den Sohn sehr mitgenommen, und eine so große Trauer konnte selbst die ganz Jungen altern lassen. Nach dem Tod des Vaters war die Großmutter sein Vormund geworden. Aber er war kein ganz gewöhnlicher Jugendlicher; es gab keinen Computer mit E-Mail-Verkehr, kein Handy und damit auch keine Anrufe oder SMS, die verfolgt werden könnten. Tobias hatte kein Interesse an so etwas; er machte eine Zimmererlehre, genauso wie einst sein Vater. Ging seiner Arbeit nach und schien alles in allem ein tüchtiger, anständiger junger Mann zu sein. Roland wunderte sich, dass es solche Jugendlichen heutzutage überhaupt noch gab, wo sie doch tagtäglich von Werbung und Reality-TV beeinflusst wurden. Er warf einen schnellen Blick auf Mikkel Jensen und die Journalistin und setzte sich auf einen freien Stuhl. Ein Mädchen verrückte den ihren ein bisschen, sodass mehr Platz war.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie und schaute Roland mit leeren Augen an. »Ich bin Tobias’ Freundin, Trine.«
»Leider nicht, wir verfolgen selbstverständlich die Spuren, die wir haben, aber vielleicht könnt ihr uns helfen. Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«
»Samstag Nacht vor dem Fatter Eskild, wir hatten gefeiert und er wollte zur Park Allee und den Nachtbus nach Hause nehmen.« Der Kahlrasierte, der diese Antwort gegeben hatte, nahm einen Schluck von seinem Bier. Fast könnte er ein bisschen an Mikkel Jensen erinnern, aber bei seiner Gesichtsform wirkte die mangelnde Haarpracht längst nicht so charmant wie bei Mikkel.
»Und du bist?«
»Ich heiße Bertram. Tobias und ich sind fast Nachbarn.«
»Hast du auch einen Nachnamen?«
»Dinesen. Bertram Dinesen.«
»Wie spät ist es gewesen, als sich Tobias von euch verabschiedet hat?«
»Öh …« Bertram schaute ratlos zu den anderen, und alle redeten durcheinander, bis sie sich einig wurden, dass es wohl ungefähr halb eins gewesen war.
»War er betrunken?«, fragte Roland weiter. Die Großmutter hatte behauptet, dass ihr Enkel nie Alkohol trank, aber auf derartige Aussagen aus der nahen Familie war oft nicht allzu viel zu geben. Ihr war offenbar auch nicht klar gewesen, dass er Freunde hatte, mit denen er Party machte. Sein Arbeitgeber hatte ihn als vermisst gemeldet, als er nicht zur Arbeit gekommen war und er nur Tobias’ verwirrten Vormund zu Hause angetroffen hatte.
»Ja, er war nicht ganz sicher auf den Beinen«, antwortete Trine und starrte verloren ins Glas. Obwohl sie in der warmen Sonne saß, zog sie ihre Daunenjacke fester um sich. Ihre Wimperntusche war verschmiert und die Nase rot. Sie schniefte.
»Wieso bist du auch nicht beim ihm geblieben?« Ein blondes Mädchen in Trines Alter warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Darüber haben wir doch geredet, Miriam, also lass es jetzt gut sein!« Bertram sah die beiden Mädchen verärgert an, als sei das ein Punkt, den sie schon reichlich durchdiskutiert hatten.
»Welche Verbindung habt ihr jeweils zu Tobias Abrahamsen?« Mikkel Jensen stand auf, die Hände in der Tasche; der beengte Platz an dem runden Tisch war ihm offensichtlich zu unbequem geworden. Die Journalistin stand mit dem Rücken zu ihnen, den Blick auf das Wasser der Aarhus Å gerichtet, als würde sie im Fluss nach einer Leiche suchen, und sog an ihrer Zigarette.
»Ja, also ich bin ja seine Freundin«, antwortete Trine als Erste. Das wurde nicht mit Stolz gesagt. Eher, als ob sie diejenige sei, die ihnen leidtun müsste, so wirkte es auf Roland. Keiner von ihnen schien besonders betroffen über das Verschwinden ihres Freundes, aber es stand ja auch keineswegs fest, dass er nicht bald wieder zurückkommen könnte. Das war bei Vermissten in diesem Alter schließlich öfters mal der Fall. Er hatte vielleicht einfach nur ein anderes Mädchen getroffen und war mit ihr nach Hause gegangen – genau den gleichen Gedanken hatte auch Roland bei Salvatore zunächst gehabt, als er nicht nach Hause gekommen war. Die Hubschraubersuche und die Hundestreife hatten nichts gefunden, was ihnen irgendeine Erklärung für Tobias’ Verschwinden hätte geben können. Brachten die Informationen der Freunde keine verwertbaren Neuigkeiten, kamen sie nicht weiter. Dann würden sie den Fall erst einmal zurückstellen und auf das Beste hoffen müssen – oder das Schlimmste befürchten. Rolands Blick wanderte ebenfalls zum Fluss. Das Wasser der Å strömte still und geheimnisvoll wie ein