Schwester Margaretha stützte sich auf ihre Jäthacke und sah zum Turm hinauf. Die Sonne schillerte auf dem von Grünspan überzogenen Dach. Die Fenster ähnelten dunklen leeren Augenhöhlen ohne ein Lebenszeichen. »Nichts ist da drin. Wieso fragst du?«
»Warum dürfen wir diesen Teil des Klosters denn nicht betreten? Bist du schon einmal dort drinnen gewesen.« In ihrer Stimme lag unverhohlene Neugier.
»Nein, das Gebäude ist sehr alt. Die Treppen könnten einstürzen und wegen des modrigen alten Schimmels die ist Luft ziemlich ungesund.«
Schwester Laura wandte ihr den Blick zu. Er war so starr, dass es wirkte, als würde sie trotz ihrer offenen Augen nichts sehen. »Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass der Schrei von dort gekommen ist.«
»Vom Turm?«
Die Augen des Mädchens füllten sich wieder mit Leben, voller Angst starrten sie Margaretha an. »Das weiß ich nicht, aber auf jeden Fall aus diesem Teil des Gebäudes. Wenn man nur wüsste …«
»Das kann nicht sein, Schwester Laura, dieser Teil steht leer, und außerdem hätten Mutter Helene und die älteren Schwestern den Schrei dann auch gehört. Da war kein Schrei. Nur in uns selbst. Das war der Teufel, der uns Angst machen wollte.«
Schwester Laura nahm wieder ihr Jätgerät zur Hand und fing langsam an, zwischen den Schnittlauchbüscheln zu hacken, während sie wortlos den Kopf schüttelte, als versuche sie sich davon zu überzeugen, dass sie sich irrte.
Das Ave Regina Coelorum verstummte. Die hellen Frauenstimmen verklangen in der Dunkelheit der Kirche. Was folgte, war eine göttliche Stille, wie man sie nur in einer Kirche findet. Das abendliche Stundengebet, die Komplet, war das Gebet, das sie am meisten genoss, gerade weil es mit einem an die Gottesmutter gerichteten Gesang, einer marianischen Antiphon, abschloss, und außerdem war die Komplet das letzte Gebet des Tages. Sie hatte alle vier marianischen Hymnen auf Latein auswendig gelernt und der Klang der Worte im hohen Kirchenraum war unvergleichlich. Die große Statue der heiligen Jungfrau Maria war von einer Wachskerze erleuchtet, deren flackerndes Licht ihrem milden Gesicht einen geradezu lebendigen Ausdruck verlieh; fast fühlte Schwester Margaretha die heilige Jungfrau in Fleisch und Blut vor sich stehen. Sie war nicht nur die Mutter des Jesuskindes, sondern ihrer aller Mutter. Hier gab es keine Dämonen.
Pater Francesco saß ganz hinten in der Kirche mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Schwester Margaretha hatte gesehen, wie er mit einem Kreuz in der einen Hand den Flur zwischen den Zimmern der Schwestern mit Weihwasser besprengt hatte. Später hatte sie sich dann mit Mutter Helene getroffen. Sie hatte ruhig auf all ihre Fragen geantwortet und nicht so betroffen über den Vorfall gewirkt, wie sie erwartet hätte. Alle könnten beruhigt auf Pater Francesco vertrauen, so hatte sie versichert, er folge Jesu Beispiel und treibe das Böse aus. Vor einigen Jahren habe er Stigmata bekommen, die ihm, so Mutter Helene, eine ganz einzigartige Verbindung zu Gott verliehen hatten. Mehrere Wochen lang hatte er blutende Nagellöcher in Händen und Füßen gehabt, Spuren der Dornenkrone auf dem Kopf und ein Wunde in der Seite, wie Christus nach dem Lanzenstich. Kein Arzt habe diese Wunden zu erklären vermocht. Pater Francesco sei Mitglied der Internationalen Vereinigung der Exorzisten, die 1990 vom bedeutendsten Exorzisten Italiens, Pater Gabriele Amorth, gegründet worden sei, hatte Mutter Helene erklärt – ohne dabei ihren Stolz darüber verbergen zu können, diesen Mann zu kennen, der selbst den Vergleich mit dem heiligen Franz von Assisi nicht zu scheuen brauche.
Als Schwester Margaretha dann hatte wissen wollen, was Pater Francesco denn genau tue, um das Böse aus dem Kloster zu vertreiben, hatte Mutter Helene einen Moment gezögert. »Er ist am liebsten ganz allein, wenn er sich den Dämonen entgegenstellt, aber er hat mir erzählt, dass dabei, neben Weihwasser und natürlich dem Kreuz, ein besonderer liturgischer Ritus Verwendung findet, mit einem Gebet an den Erzengel Michael, der ja in der Offenbarung des Johannes an der Spitze der Schlacht gegen den Bösen steht.«
»Er meint also, dass es hier wirklich etwas Böses gibt, das ausgetrieben werden muss?« Ihre Stimme hatte bei diesen Worten unbeherrscht gezittert.
»Wie ich bereits gesagt habe, ja. Die Schreie, die wir gehört haben, sind Satans Werk.« Mutter Helene berührte das Kreuz, das um ihre Brust hing, als wolle sie um Vergebung dafür bitten, diesen Namen des Leibhaftigen in den Mund genommen zu haben.
Nach der Komplet begann das große Silentium, und es wurde still im Kloster. Niemand durfte während dieser Zeit sprechen. Es sei denn, es handelte sich um einen Notfall. Sich an diesen Teil von Abend und Nacht zu gewöhnen, der bis zum ersten Morgengebet dauerte, war für Margaretha, als sie vor einigen Jahren ins Kloster gekommen war, am schwersten gewesen, aber nun genoss sie die Stille – ein angenehmer Abschluss des Tages. Eines Tages, dessen Rhythmus und Verlauf ganz unter dem benediktinischen Motto »Ora et labora« – Bete und arbeite – stand, wie es auch auf dem unter Glas gerahmten bestickten Schild zu lesen war, das an der Tür zum Flügel der Schwestern hing. Diese Art der Tagesgestaltung war zum Muster ihres Lebens geworden. Gott würde ihren Einsatz ohne Zweifel belohnen; aber warum ließ er es nur zu, dass der Satan in ihr stilles und friedliches Leben eindrang, wo sie ihm alle doch so treu ergeben waren? Es musste jemand unter ihnen sein, der das Böse anzog. Vielleicht nur eine einzige Person. Wenn sie so zurückdachte – hatte nicht alles erst angefangen, seit Schwester Laura ins Kloster gekommen war?
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