Das Mädchen zögert noch eine Sekunde. Mechanisch betrachtet sie das Auto, sieht die amerikanische Nummer. Man hat sich als Deutscher daran gewöhnt, Befehle auszuführen, auch wenn sie zunächst noch völlig unverständlich sind.
Zwei Männer sitzen noch im Wagen. Der Fahrer biegt in die Prinzregentenstraße ein, gibt Gas, rast die Windungen am Friedensengel hoch, überquert das Rondell, hält vor einem von Säulen umgebenen Haus.
„Kommen Sie“, sagt der Zivilist zum zweiten Male in anglisiertem Deutsch. Er hat ein zu kurzes Kinn und ein zu langes Sakko, spricht brüsk, ist ein Teil jener Unwichtigkeit, die im Jahre 1946 so wichtig war.
Er führt Vera in ein Büro, läßt sich auf einen Stuhl fallen, zündet sich eine Zigarette an und sagt gedehnt:
„Setzen Sie sich, Fräulein Eckstadt.“
„Was wollen Sie eigentlich von mir?“ fragt Vera nochmals. Ihre hellen, wachen Augen sind zu einem schmalen Spalt zusammengezogen. Ihr Blondhaar fällt sorgfältig geordnet in den Nacken und endet in einer hübschen Rolle. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen, entnimmt ihrer Handtasche eine Zigarette, gibt sich selbst Feuer, sieht dabei zum Fenster hinaus.
„Do you speak English?“ fragt der Mann.
„Ja“, versetzt Vera, „genausogut wie Sie Deutsch.“
Ein uniformierter Leutnant steht lässig im Hintergrund, betrachtet Vera. Das Gespräch interessiert ihn nicht.
„Sie waren beim BDM?“
„Natürlich.“
„Und Ihr Bruder war bei der SS?“
„Ja“, erwidert sie, „und mein Vater bei der NSV … Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wer Sie sind?“
„Ich heiße Bauer“, antwortet der Mann.
„Sie haben sich an Colonel Evans herangemacht“, fährt er fort, „und ihm Greuelmärchen erzählt. Ich will hier nicht wiederholen, was Sie alles behauptet haben. Sie wissen es ja selbst am besten.“
Bauer steht auf, geht am gleichgültigen Leutnant vorbei, läuft ein paar Schritte hin und her.
„Das ist Nazipropaganda“, sagt er dann heftig. „Ich warne Sie. Wir sind hier, um die Demokratie zu schützen. Wir dulden keine verlogenen Angriffe!“
„Ich habe nur die Wahrheit gesagt“, entgegnet Vera heftig, „und ich dachte, in der Demokratie kann man die Wahrheit sagen.“ Sie steht auf. Ihre Augen blitzen. Sie spricht schnell und kalt: „Oder wollen Sie mich einsperren? Wie meinen Bruder?“
„Seien Sie ruhig!“ entgegnet Bauer.
Der Leutnant zerquetscht unbeteiligt seinen Kaugummi, immer noch Vera anstarrend.
„Sie wissen jetzt, was Ihnen droht“, fährt Bauer fort, „überlegen Sie es sich genau, sonst verlassen Sie heute zum letzten Mal dieses Haus.“
Ein Gedanke schießt Vera plötzlich durch den Kopf. Sie betrachtet den Uniformierten lächelnd und sagt in englischer Sprache:
„Und was meinen Sie, Leutnant? Wollen Sie auch die Demokratie mit Gefängnissen verteidigen?“
Der Leutnant malmt bedächtig auf seinem Kaugummi herum, grinst, richtet sich auf.
„Ich finde, daß Sie ein sehr hübsches Girl sind“, sagt er dann.
„Wenigstens etwas“, entgegnet Vera.
Bauer setzt sich ärgerlich.
„Ich habe keine Vorurteile“, setzt der Leutnant hinzu, „wenn Sie Lust haben, gehen wir heute abend miteinander aus.“
Vera überlegt blitzschnell. Heute abend ist sie mit Leutnant Henry F. Morris, dem Assisten von Colonel Evans, verabredet. In Sachen ihres Bruders natürlich. Was sollte sie sich sonst aus dem Leutnant machen? Aber vielleicht kann dieser CIC-Leutnant weiterhelfen? Vielleicht kann sie ihn zum Sprechen bringen? Vielleicht kann sie diese schlaksige Gleichgültigkeit aus ihm heraustreiben … vielleicht kann sie Werner helfen?
„Lust habe ich keine“, erwidert sie lächelnd, „aber ich gehe trotzdem mit Ihnen aus.“
„Ich heiße Tebster“, sagt der Leutnant, geht auf sie zu und schüttelt ihr die Hand. Er läßt Bauer wie eine heiße Kartoffel fallen, nickt Vera zu. „Ich bringe Sie zurück“, setzt er hinzu.
Unter der Türe dreht er sich nach Bauer um.
„Mein Freund hier ist manchmal sehr eilfertig. Machen Sie sich nichts daraus.“
Vera nickt. Ganz kann sie ihren Triumph nicht hinunterschlucken.
„Auf Wiedersehen, Herr Bauer“, sagt sie ironisch.
Der Mann blickt sie nicht an, er schaut zum Fenster des CIC-Gebäudes hinaus.
An diesem Tag ist Colonel Evans in das Hauptquartier der amerikanischen Armee nach Heidelberg gefahren. Trotz massiver Drohungen erhielt er keine Sprechkarte für die Insassen des Gefängnisses in Schwäbisch-Hall. Der Ankläger, ein Oberleutnant, würde es nicht wagen, sie ihm so hartnäckig zu verweigern, wenn er nicht von der Armee gedeckt würde. Darum kümmert sich der Colonel nicht. Er ist entschlossen, den Stier bei den Hörnern anzugehen – wie bei einem Rodeo in seiner Heimatstadt Atlanta.
Heute morgen hat ihn die Versetzung nach Amerika erreicht. Er warf sie in den Papierkorb. Drei Gesuche zuvor waren abgelehnt worden. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, da er in diesen Dreckhaufen von Akten griff, schenkte man ihm die Rückfahrkarte! Eine große, erfolgreiche Rechtsanwaltspraxis wartet auf ihn, eine Frau und zwei Kinder, die er liebt, ersehnen seine Ankunft …
Der Colonel geht durch die Versuchung hindurch, unbedacht, ungehemmt, unbeirrt. Sein Anstand und seine Courage haben ihm eine Falle gestellt, in die er blindlings hineinläuft … ein Mann, ein Mensch, ein Charakter. Er bedenkt nicht, daß er Deutschen hilft, die er eigentlich nicht leiden kann.
Einen ganzen Tag braucht er, um an den Zwei-Sterne-General Simson heranzukommen. Eine Mauer schweigender Höflichkeit schien langsam vor ihm zurückzuweichen. Er wurde vertröstet, zum Essen eingeladen, belobigt, abgelenkt. Aber so kann man mit Colonel Evans nicht umgehen. Er will zum General. Und er wird ihn treffen und wenn er eine Woche warten muß.
Am Abend schafft er es. Er wird in die schneeweiße Villa eingeladen. Eine Party natürlich. Der General begrüßt ihn höflich und wendet sich sofort seinen anderen Gästen zu. Der Colonel läßt den Whisky stehen. Er wartet.
Um 22 Uhr ist es so weit. Er faßt den General, geht mit ihm in einen Nebenraum.
„Sir“, beginnt er, „ich will hier keine Feste feiern, ich will arbeiten. Ich habe den Malmedy-Case übernommen, und was ich anfasse, führe ich zu Ende.“
Der General nickt.
„Ich brauche eine Sprechkarte. Ich muß sehen, was hier gespielt wird. Sie bringen mich nicht los, Sir … nicht einmal nach drüben, solange ich diese Leute nicht gesprochen habe.“
Der General betrachtet Evans aufmerksam. Simson ist groß und schlank, hat ein sympathisches Jungengesicht und trägt an seiner linken Brustseite drei Reihen Orden.
„Mir gefällt das alles nicht“, beginnt der General, „Evans, denken Sie nicht, daß ich Schweinereien decke. Ich wünsche keine Schweinereien. Weder so noch so.“
Er bietet dem Oberst eine Zigarre an, schneidet sie ihm ab, reicht ihm Feuer.
„Ich habe eine Frage“, fährt er dann fort, „Colonel, eine lächerliche Frage: Sind Sie ein guter Amerikaner?“
Der Oberst fährt hoch. Jede Verbindlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen. Es ist weiß, schmal, kalt.
„Haben Sie Zweifel, Sir?“ fährt er den General an.
„Ist