An diesem Tag verflucht der Oberst die Tatsache, daß er Jurist ist. Daß er Englisch spricht. Daß er als Amerikaner zur Welt kam. Daß er die Uniform eines Obersten der Vereinigten Staaten trägt. Daß er sein Land liebt.
An diesem Tag glaubt er, es zu hassen.
Colonel Evans ist mittelgroß und zierlich, hat ein intelligentes, kantiges Gesicht, lebhafte, scharf beobachtende Augen. Er stammt aus Atlanta, der Hauptstadt von Georgia, und der energische, fast asketisch wirkende Mann ist schon auf den ersten Blick der Typ des Gentleman aus den Südstaaten.
Der Krieg spült ihn nach Deutschland. Er hatte keinen Grund, es besonders zu lieben. Und er liebte es auch nicht besonders. Er tat seine Pflicht. Er diente in der Army. Er brachte es bis zum Obersten. Eigentlich sollte er längst zurück sein, um sich um seine Rechtsanwaltspraxis zu kümmern. Er war jetzt bald an der Reihe und stand kurz vor der Rückreise in die Vereinigten Staaten.
Da kam der Auftrag.
Er sagte zunächst nein. Er hatte sich Ideale bewahrt. Schwachen, verführten, gescheiterten Menschen zu helfen, dazu war er jederzeit zu haben. Aber Verbrechern? Mördern? Dutzendfachen Mördern? SS-Henkern, die wehrlose Kriegsgefangene niederschossen? Die ihre letzten Schreie, ihre letzte Verzweiflung, ihre letzten Gebete ignorierten? Die sie gemeiner, erbarmungsloser abschlachteten als die Viehmärkte ihren täglichen Schweineauftrieb? Vertierten Unmenschen, die aus nächster Nähe mit der Maschinenpistole ihren Opfern zwischen die starren, entsetzten Augen schossen, daß die Gehirne herausspritzten wie der Tomatensaft aus einer nachlässig geöffneten Konservenbüchse? Mörder vertreten, die ihr Handwerk von der Pike auf gelernt hatten?
Man hatte ihm die Chefverteidigung des sogenannten Malmedy-Prozesses angetragen. Er kannte den Fall Malmedy wie jeder andere Amerikaner aus den Zeitungsberichten. Er wußte, daß Generalfeldmarschall Rundstedt in einem letzten Aufbäumen vor der totalen Niederlage Weihnachten 1944 seine Truppen weit nach Belgien hineingetrieben hatte. Daß es ihm gelungen war, einen letzten, wenn auch zeitlich sehr begrenzten Sieg zu erringen.
Soweit war die Sache in Ordnung. Was aber Malmedy zu einem unauslöschlichen Brandmal des Krieges machte, waren die Begleiterscheinungen der Ardennenoffensive. Voraustruppen der SS, teilweise in amerikanischer Uniform, ausgesuchte Leute, meist fanatische Nationalsozialisten, die fließend Englisch sprachen, waren in das Hinterland vorgestoßen und hatten Gefangene gemacht.
Und sie hatten sie, wie sie es zu nennen pflegten, umgelegt. Dafür standen sie jetzt vor Gericht. Vor einem bemerkenswert fairen Gericht. Vor Richtern, die sich redlich bemühten, unvoreingenommen die Taten zu beurteilen. Die meisten hatten ihre Geständnisse unterschrieben, sie hatten zugegeben, Gefangene ermordet zu haben.
Juristisch lag der Fall damit klar. Was nun kommen mußte, war das Urteil. Auch hier konnte es keinen Zweifel geben. An den Galgen von Landsberg war noch Platz für viele.
Für viele, die zu verteidigen Mr. Evans keine Lust hatte. Gut, man hatte ihm die Akten geschickt, und er hatte schließlich mit der natürlichen Neugier des Juristen, der kein Dossier vorbeiziehen lassen kann, darin geblättert.
Und dann war er auf Widersprüche gestoßen …
Da sollten Menschen an einer Friedhofsmauer erschossen worden sein … wo der Friedhof nicht eingesäumt war. Da sollte eine Belgierin auf einem Stuhl in ihrer Wohnung exekutiert worden sein, die in Wirklichkeit von einer amerikanischen Bombe erschlagen wurde. Da hatten frühere SS-Leute in schriftlichen Geständnissen zugegeben, Menschen ermordet zu haben … die noch lebten!
Soviel Zufälligkeiten, so viele Irrtümer auf einmal konnte es nicht geben. Das übersah der Colonel mit einem Blick. Hinter diesen Unstimmigkeiten mußte sich etwas Gräßliches, etwas Entsetzliches, etwas Ungeheuerliches verbergen.
Waren die Geständnisse erpreßt worden? Hatten die US-Ermittler ähnliche Methoden angewandt, wie sie durch die Gestapo weltbekannt und berüchtigt geworden waren?
Hier, an dieser Stelle seiner Untersuchung, drohten den Obersten Phantasie, Logik und Anstand zu verlassen. Hier konnte er einfach nicht mehr folgen. Hier war er am Ende seiner Vorstellungswelt angelangt.
Ein anderer hätte die Akten ohne weiteres in den Papierkorb geworfen und sich eine Fahrkarte nach Amerika besorgt.
Nicht so Colonel Evans. Er wird sich nichts schenken. Nichts sich, nichts seinem Land, nichts seiner Uniform, nichts seinen Farben. Seine Intelligenz wird das Gericht kennenlernen. Seinem Anstand werden die Angeklagten fassungslos gegenüberstehen. Seinen Mut wird die Presse in aller Welt rühmen.
Seinen inneren Kampf aber wird er mit sich selbst abmachen müssen.
Den Colonel geht mit großen Schritten in seinem Büro hin und her. Er hatte alle Einzelheiten der Akten im Kopf. Immer noch hofft er, daß sich die Widersprüche als ein Irrtum herausstellen werden, für den es eine ganz natürliche Erklärung gibt. Er unterbricht seinen Fußmarsch, geht auf das Aktenbündel zu, liest, schüttelt den Kopf, rennt wieder hin und her, reißt das Fenster auf, schließt es im nächsten Augenblick, zündet sich eine Zigarette an, wirft sie weg, tritt sie aus.
Leutnant Henry F. Morris ist eingetreten. Er wartet, bis der Oberst aufsieht.
„Eine Dame möchte Sie sprechen, Sir“, sagt er dann.
„Welche Dame?“
„Fräulein Eckstadt.“
„Kenne ich nicht“, versetzt der Colonel abweisend.
„Die Schwester eines Angeklagten.“
„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich keine Familienbesuche mag.“
„Es ist eine Bekannte von mir. Sir … Nur fünf Minuten.“
„Von mir aus“, knurrt der Colonel.
Er mustert Vera Eckstadt flüchtig, stellt sich vor, ohne ihr die Hand zu geben, sagt, daß er leider wenig Zeit hätte.
„Ich fasse mich kurz“, beginnt das Mädchen. „Mein Bruder ist einer der Malmedy-Angeklagten. Er hat ein Geständnis abgelegt, daß er fünf amerikanische Kriegsgefangene erschossen hat … Das ist nicht wahr. Ich kenne meinen Bruder gut. Er würde keiner Fliege etwas tun.“
„Warum legt er dann Geständnisse ab?“
„Das kann ich Ihnen genau erklären, Herr Oberst. Zuerst haben sie ihm eine Kapuze aufgesetzt. Dann hat man ihn in einen stockfinsteren Raum geführt. Dann hat man ihm gesagt, daß er in zwei Minuten erschossen wird. Dann hat man ihm brennende Streichhölzer unter die Nägel geschoben. Als er vor Schmerz aufbrüllte, schob man ihm das Geständnis zum Unterschreiben hin. Er war noch nicht weich. Man stellte noch andere Dinge mit ihm an. Soll ich sie Ihnen aufzählen, Sir?“
„Danke.“ Die Stimme des Colonel klingt scharf und schneidend.
„Eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Und er gestand Verbrechen, die er nie verübt hatte. Er wollte sich lieber hängen als weiterquälen lassen.“
Der Oberst läßt Vera Eckstadt ruhig aussprechen. Er hat sein Gesicht in der Gewalt. Rein äußerlich ist ihm keine Spur von Bewegung anzumerken. Auch seine Stimme klingt völlig unverändert.
„Und wer soll das getan haben?“
„Die Namen kenne ich nicht. Vertreter der Anklage jedenfalls.“
„Hören Sie, Fräulein“, sagt der Oberst, und jetzt ist ihm der ganze Zorn, der ganze Ärger und der ganze Ekel voll anzumerken, „wollen Sie behaupten, daß Amerikaner so etwas tun?“
„Yes, Sir.“
„Wissen Sie, wie viele Millionen Juden die Deutschen vergast haben?“
„Ich weiß es“, antwortete das Mädchen, „ich weiß aber auch, daß mein Bruder genauso unschuldig sterben würde wie die jüdischen Mitbürger … Ich habe nicht viel, um ihn zu retten. Ich kann Sie nur bitten, anflehen …“
Dem Mädchen fällt das Sprechen schwer. Es weint, ärgert sich über