Ein starker Gegensatz: Hier der geborene Herr mit allen Merkmalen seiner Rasse, die seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden gewohnt war, frei zu gebieten aus unbestrittenem, oder bis aufs Blut zu kämpfen um den bestrittenen Boden; und dort, leicht nach vorne geneigt, der Bürger mit dem bleichen, vom grauen Vollbart umrahmten Gesichte des Werkstattmenschen, den starken Backenknochen, dem schlichten Haupthaar, das glatt auf den Pelzkragen seines feinen Tuchwamses herabfiel; der Mann aus dem Volke, der sich aus engen Umfriedungen emporgearbeitet hatte auf die Höhe des Ruhmes und des Wohlstandes. Hier das leuchtende Auge des Gebieters, das gewohnt war, über große Versammlungen, über weite Lande, nach hohen Zielen zu blicken – dort das scharfe, dunkle Auge des. Künstlers, das nahe Erscheinungen zu erfassen, nur ihm sichtbare, nur ihm in ihrer Bedeutung erkennbare Linien, hinter der Hülle die Seele zu erspähen geübt war. Hier der Herr, umflossen vom Abglanz hoherpriesterlicher Würde – dort der ihm an Leib und Seele Untergebene, unterwürfig in seinen Gebärden, gebunden in seiner bürgerlichen Stellung und – – dennoch ein Freier wie dieser, umflossen wie dieser von einem Abglanz, nicht der Macht, nicht der Würde, sondern des Genius.
Mit dem Ausdruck unverkennbaren Wohlwollens blickte der Fürst aus den Meister hinüber. Er hatte gefragt, warum denn in den letzten Jahren kaum ein neues Kunstwerk aus Tilmann Riemenschneiders Werkstatt hervorgegangen, warum – und dabei hatten sich die schmalen Lippen ein klein wenig spöttisch verzogen – warum denn der Bildhauer fast ganz hinter den Stadtvater zurückgetreten sei?
Meister Tilmann senkte die Augen, und als er sie wieder aufschlug, irrte sein Blick über die Schulter des Fürsten, schräg in die dunkle Stubenecke. Zögernd sagte er: »Die Zeitläufte, bischöfliche Gnaden, sind meinem Handwerk wenig günstig. Wer verlangt heutzutage noch Heilige in Kirchen zu stellen? Ich habe vordem immer an die zwanzig Schnitzer- und Malerknechte da hinten beschäftigt« – er wies nach dem Fenster, dem Hose zu –, »jetzt sind es kaum sechs der Ältesten, denen ich Arbeit, zuweilen nur das Gnadenbrot gebe.«
»Die Arbeit Eurer Knechte in Ehren,« sagte der Bischof, »aber wenn ich von Kunstwerken spreche, so denke ich nur an Werke Eurer kunstreichen Hände. Hände, weiß Gott,« setzte er hinzu, »wie die Hände Eurer Heiligen. Man sieht ihnen wahrhaftig nicht mehr an, was sie gearbeitet haben in Holz und Stein! – Gearbeitet haben,« wiederholte er mit Nachdruck.
Der Meister verbarg die also besprochenen Hände fast schamhaft kreuzweise in den weiten Ärmeln seines Wamses. Und jetzt sah er dem Fürsten voll und frei ins Gesicht: »Bischöfliche Gnaden, ich werde alt.«
Gütig lächelte der Fürst: »Das gilt nicht, Meister. Auf Euer Alter wage ich's dennoch.« Und huldvoll, ehe der Magister hinter ihm helfend beizuspringen vermochte, rückte er den Lehnstuhl vom Tische, ließ sich nieder, streckte die Beine von sich, stützte behaglich die behandschuhten Hände aus den Knopf seines Stabes und sagte: »Ich habe einen Auftrag für Euch, der mir sehr am Herzen liegt.«
Ein ängstliches Zittern ging über die vielen Augenfältchen des Meisters, die der Volksmund Krähenfüße zu nennen pflegt, und er senkte erwartungsvoll sein Haupt.
»Ich bin gewillt,« fuhr der Fürst fort, »eine kunstvolle Statua der heiligen Elisabeth in die Kirche meines adeligen Ansitzes zu stiften –«
Tilmann war zusammengezuckt.
»– und ihr einen Altar zu weihen.«
Fast unmerklich schüttelte Tilmann das Haupt.
»Was ist Euch?« fragte der Fürst und maß befremdet den alten Mann, der noch immer mit gesenktem Haupte vor ihm stand.
Ein tiefer Seufzer war die Antwort.
Der Fürst rückte den Stuhl und erhob sich.
»Tilmann!« raunte der Magister.
»Ich erwarte ein großes Kunstwerk von Euren – hört Ihr? – von Euren Händen,« sagte der Fürst in verändertem Tone. »Wieviel Zeit werdet Ihr dazu brauchen?«
Der Meister hatte sich gefaßt. Langsam faltete er die Hände über seiner Brust, und seine Stimme zitterte merklich, als er die Worte hervorbrachte: »Eure bischöfliche, fürstliche Gnaden werden vergeblich auf ein solches Werk von meinen Händen warten müssen.«
»Tilmann!« – kam es zum zweiten Male warnend von dorther, wo der Sekretarius stand.
»Warten müssen –?« wiederholte der Bischof grollend. »Ihr werdet Euch herablassen, mir dies näher zu erklären!«
Langsam und fest kam die Antwort zurück: »Euer Gnaden, es ist mir nicht mehr möglich, Heilige zu schnitzen.«
Ein paar Augenblicke herrschte das Schweigen des Todes in der niedrigen Stube.
Dann begann der Fürst. Aber es war nun, als spräche nicht mehr der Fürst, sondern einzig und allein der Priester. Die grollende Stimme von vorhin klang weich und gedämpft: »Nur keine Heiligen mehr, Tilmann Riemenschneider? Und warum nur keine Heiligen mehr?«
Die bleichen Hände des Künstlers schlossen sich noch fester ineinander, er atmete tief auf: »Bischöfliche Gnaden, auch wir leben unter dem unerbittlichen Gesetze der Natur, das gefaßt ist in die Worte Wachsen, Werden und Vergehen. Und meine Augen sind trübe geworden für das Heilige in Menschengestalt.« Frei, wie ein großes Kind, blickte er seinem Herrn in das harte Antlitz; aber mit seltsam leuchtenden Augen, die seine Worte Lügen straften.
Wiederum veränderte sich die Stimme des Machthabers, und im kühlen Tone dessen, der unter allen Umständen einen Handel zum Abschluß zu bringen gewillt ist, fragte er den Meister, ob es wahr sei, daß er schon einmal eine Statua geschnitzt habe, wie er, der Bischof, sie wünsche?
Unter den forschenden Augen des Fragenden zog sich in jähem Erschrecken die Stirne des alten Mannes in Falten.
Kühl – etwa so, wie er als junger Domherr um ein begehrenswertes Roß gefeilscht hatte – fuhr der Bischof fort: »Wenn ich recht berichtet bin, seid Ihr heute noch im Besitz dieser Statua und verbergt sie vor fremden Blicken.«
Der Meister war in sich zusammengesunken. Seine Arme hingen hilflos herab.
»Auf – in Eure Werkstatt!« befahl der Bischof.
»Tilmann –!« warnte der Magister zum drittenmal.
Der Meister raffte sich zusammen und sagte mit heiserer Stimme: »Es ist nicht nötig, daß sich Eure fürstliche Gnaden in meine Werkstatt bemühen.« Er nahm den Leuchter vom Tische, ging in den Hintergrund der Stube, entzündete die Doppelkerzen zweier Wandleuchter zur Rechten und Linken der kahlen Schmalwand, drückte den Finger aus diese Wand und trat mit hocherhobenem Leuchter zur Seite. Geräuschlos schob sich die Wand auseinander, und in einem kleinen, kapellenartigen Räume stand, silbergrau schimmernd, aus mäßig hohem Sockel, leicht nach vorne geneigt, mit scheu geöffneten Augen, gerade auf den Bischof blickend, als böte sie ihm die Fülle der Rosen, die ihre zarten Hände im Schoße des leicht gehobenen Mantels hielten, die lebensgroße Gestalt eines Weibes.
»He –!« fuhr es dem Überraschten von den Lippen, und es klang weder fürstlich noch bischöflich, sondern urfränkisch-gemütlich; »da steckt sie also, die Heilige?«
»Keine Heilige, bischöfliche Gnaden,« sagte der Bildschnitzer leise, und der Leuchter in seiner hocherhobenen Rechten schwankte, daß die schweren Wachstropfen dumpfklingend aus den Fußboden fielen: »Meine zweite selige Hausfrau.«