So erging ein königlicher Aufruf, daß gegen diejenigen, die sich auf den Schiffen des Capitan general Cristobal Colón anwerben ließen, jede Kriminaluntersuchung eingestellt werden sollte. Die verzweifeltste Maßregel, die zu erdenken war. In einer Ordre, gerichtet an sämtliche Gerichtsbarkeiten des Reiches, hieß es: »Ihr wißt, daß wir den Cristobal Colón beauftragt haben, in das ozeanische Meer zu schiffen. Nun sagt er, daß es, um Mannschaft für seine drei Caravellen zu erhalten, notwendig sei, den Personen, die er heuert, Sicherheit zu geben, da sie auf andere Weise nicht willens sind, mit ihm zu gehen. Und da er Uns gebeten, daß Wir die Befehle hiezu erteilen möchten, und Wir es für gut finden, so geben Wir durch Gegenwärtiges Sicherheit allen und jeden Individuen, die mit dem genannten Cristobal Colón sich zur genannten Reise nach dem genannten ozeanischen Meer einschiffen, so daß ihnen weder an ihrem Leibe noch an ihrem Eigentum irgendein Schaden oder eine Strafe zugefügt werden kann aus keinerlei Anlaß irgendeines Verbrechens, das sie bis zum heutigen Tag begangen, und solches soll für die Dauer der Reise bis zu ihrer Heimkehr und noch zwei Monate darüber hinaus Gültigkeit haben.«
Erklärlicherweise fehlte es nun an Leuten nicht; das verworfenste Gesindel meldete sich, Straßenräuber, Piraten, dem Zuchthaus entflohene, dem Galgen entsprungene Burschen, Diebe, Mörder, Münzfälscher, Gebrandmarkte aus dem ganzen Königreich. Columbus hatte keine Wahl. Er nahm sie auf. (Wer erinnert sich da nicht der grandios-lächerlichen Szene, wie Don Quichote den Galeerensträflingen die Fesseln abnimmt und ritterliche Worte zu ihnen spricht, über die sie sich lustigmachen?) Aber auch von diesem Abschaum lief ein großer Teil, kaum gedungen, wieder davon, obgleich ihnen der Sold wie auf Kriegsschiffen zugesagt und auf vier Monate vorausbezahlt wurde. Das Grauen war stärker als die Lockung, Stadt und Hafen schwelten von schlimmen Gerüchten, Trotz und Aufsässigkeit machten sich allenthalben bemerkbar, sogar die mit der Ausbesserung der Schiffe beschäftigten Arbeiter verrichteten ihr Tagewerk widerwillig, alles mußte mit den härtesten Maßregeln gegen das öffentliche Vorurteil durchgesetzt werden.
Endlich, in den ersten Tagen des August, waren alle Hindernisse überwunden und die Flotte zur Abfahrt bereit. Columbus ordnete seine Angelegenheiten, nahm Abschied von seinen Gönnern und Freunden und stellte seinen Sohn Diego, der bisher im Kloster La Rabida gewesen war, unter die Aufsicht eines Geistlichen in der Stadt Moguer; dieser sollte ihn dann an den Hof bringen, denn die Königin hatte ihn durch ein Albala oder Patent zum Pagen beim Prinzen Don Juan ernannt, eine Ehre, die sonst nur Personen höchsten Ranges widerfuhr. Um die Reise nicht mit schuldbelastetem Gewissen anzutreten, ging der Admiral mit seinen Kapitänen, Piloten und gesamten Mannschaften zur Messe, Beichte und zum Abendmahl nach La Rabida. Es waren, auf den drei Schiffen, im ganzen hundertzwanzig Personen. Columbus blieb die Nacht über im Gebet und Gespräch mit den Franziskanern, am Morgen des dritten August verließ er in Begleitung des Priors Juan Perez das Kloster und wandte sich zum Hafen. Die ganze Bevölkerung hatte sich ans Ufer des Rio Tinto begeben. Um acht Uhr gab der Admiral vom Deck der Santa Maria mit mächtiger Stimme im Namen Jesu Christi Befehl zum Lichten der Anker und Hissen der Segel.
Sechstes Kapitel.
Fahrt ins Unbekannte
Wenn Christoph Columbus derjenige Mensch ist, der nach der üblichen Geschichtsauffassung das Tor des Mittelalters zuschlug, um eine neue Welt und Zeit heraufzuführen, so ist der Augenblick, wo die drei armseligen Kähne den spanischen Hafen verlassen, sicherlich einer der epochalsten in der Geschichte der Menschheit.
Man muß sich das Ungeheure der Tatsache nur versinnlichen. Da es uns so geläufig geworden ist wie das Einmaleins, haben wir das Maß und die Anschauung verloren. Das Einzigartige ist natürlicherweise dem Schicksal verfallen, außerhalb jedes Gleichnisses zu stehen, und die heftigste Phantasie-Entzündung bewirkt manchmal etwas wie Blindheit gegenüber dem Bild, das die Veranlassung dazu war.
Nicht im Aufgeben aller bisherigen Bindungen liegt die Größe des Entschlusses, im Hintersichlassen des Gewohnten, Vertrauten, Befriedeten, von Regel, Behelf, Erwerb und Sicherung, Gesellschaft und Gesetz, in keinem Hintersichlassen überhaupt, sondern durchaus in der inneren Gestaltsetzung des Kommenden, des Vorsichhabens, des Nochnichtvorhandenen. Was ja auch der tiefste Gedanke des Don Quichote ist.
Darin äußert sich die verehrungswürdige dunkle Kraft des mittelalterlichen Menschen, daß er keine Selbstbestimmung kennt und immer Kreatur bleibt im Fühlen und Handeln, mit dem Aufblick zu einem unbekannten Wesen und der Verhaftung in ihm. Das Religiöse an Columbus ist daher weder Vorwand, noch Kostüm, noch beruht es auf dogmatischer Lebenshaltung, es ist sein eigentlicher Kern, als solcher umfaßt er das Bewußtsein der Schickung, der Sendung, und daß der Mensch sich gegen das Element zu stellen habe als gegen das niedrig Unbeseelte und Gottfeindliche, um es zu überwinden, wie er auch dabei fahre.
Es ist außerordentlich schwierig, mit einer auch nur geringen Aussicht auf Wahrscheinlichkeit die Empfindungen jener Männer zu rekonstruieren, die da auf unzulänglichen, schlecht ausgerüsteten alten Fahrzeugen in die grenzenlose Wasserwüste hinaussegelten. Wenn es nicht überpflanzte Gefühlskomplexe aus heutiger Welt sind, ist es Dichtung; eines kann so wenig befriedigen wie das andre, beides wird zum Experiment. Ich glaube, daß es unvorstellbar und unausdenkbar ist. Jede moderne Leistung, die man etwa in Analogie setzen könnte, Durchquerung Afrikas, Erforschung des Südpols, Flug ins Polargebiet, Überfliegung des Atlantik, jede ähnliche auch aus den letztvergangenen Jahrhunderten, vollzog und vollzieht sich innerhalb der Überlieferung des Wissens um bekannte Naturgesetze und im Vertrauen auf eine bewährte kosmische Ordnung.
Dies fehlte Columbus und seinen Leuten. Es fehlte ganz und gar. Der Bau der Welt, die Größe der Erde, die menschliche Kapazität, die Wirksamkeit und Verläßlichkeit gewisser Hilfsmittel, alles das war sozusagen noch Annahme, Vermutung, Aberglaube. Nichts war bewiesen, nichts in der Erfahrung bewährt, nichts durch gültiges Zeugnis erhärtet; draußen auf dem Ozean war man von einem bestimmten Längengrad ab der allererste Mensch, und was immer man erblickte und erlebte, stand auf der schauerlichen Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Der Ablauf der Tage ist ein einziges Grauen, jede zurückgelegte Meile vermehrt das Grauen. Es gibt eigentlich kein Ziel; was sie davon gehört haben, ist Einbildung, bestenfalls Behauptung, die Phantasie vermag auf diesem Weg keinen Endpunkt zu finden, der Horizont ist rund, seine Rundheit macht das Auge rasend, der Blick irrt verzweifelt zwischen Himmel und Wasser, die Schiffe tanzen im Runden rundum, vorne, hinten, links und rechts wechseln wie auf einer schwindelnd-schwingenden Drehscheibe, es ist ihnen zumut, als wären sie lauter Bälle, die über die brüllende See ins Nichts geschleudert werden sollen. Und das ist die Quelle und der Gegenstand des Grauens, das Nichts, die Erwartung des Nichts. Jeder von uns hat es als Kind gespürt, im Traum, und es ist ein atavistischer Traum: man macht sich auf, um ans Ende der Welt zu gehen, und die ganze Seele ist erfüllt von dem unsinnigen Grauen vor dem Nichts.
Ein Teil der Briefe und Berichte des Columbus ist erst 1791 von Navarrete, einem spanischen Marineoffizier, in den Archiven des Klosters San Estéban und des Herzogs von Veragua, einem Nachkommen des Admirals, aufgefunden worden. Sie sind von Columbus’ eigener Hand geschrieben, und es war oft schwer, ja fast unmöglich, die veraltete Schreibweise, die verblaßten Lettern, die nicht mehr gebräuchlichen nautischen Fachausdrücke, die häufig eingestreuten italienischen und portugiesischen Worte zu entziffern und den schleppenden Stil, dem jede Interpunktion fehlte, in die moderne Sprache zu übersetzen, ohne die charakteristische Art des Autors zu verwischen. Die Schiffstagebücher hat Hernando Colón zusammen mit dem