„Ja, ja. Außerdem steht der junge Mensch immer in einer ganz natürlichen Opposition zu Schule und Elternhaus, und gerade die vitaleren Typen sehen in der HJ eine vortreffliche Basis, dieser Opposition den Anschein nationalpolitischer Wichtigkeit zu geben.“
„Und sie haben in ihrer HJ ja auch eine reale Macht. Eltern und Arbeitgeber, ebenso wie die Lehrerschaft, verlieren immer das Rennen, wenn sie sich mit der HJ einlassen.“
Sternhaus sah sich wieder ängstlich um und zog etwas hastig die Uhr: „Wir haben uns ganz schön verplauderte. Meine Frau wird schon mit dem Essen warten.“
„Ja, es wird Zeit, daß wir einander frohe Ferien wünschen“, sagte Melk. „Doch ich hätte es beinahe vergessen — da ist noch eine halb dienstliche Sache. Was machen wir mit Frey? Er will auf eigene Faust nach England fahren, nachdem ihn die HJ nicht zum Schüleraustausch zugelassen hat. Man sollte ihm wohl abraten; es gibt bestimmt Aerger.“
„Ich weiß davon“, bestätigte Sternhaus, „und habe ihn natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß er sich dadurch den Zorn seines HJ-Gebietsführers Landhoff zuziehe, von dem das Verbot ausgeht. Andererseits ist es natürlich gut für ihn, wenn er die Reise macht — rein bildungsmäßig. Er will ja zu diesem englischen Musikprofessor — wie hieß er doch gleich?“
„Professor Johnson meinen Sie, einer der bedeutendsten Musikpädagogen Großbritanniens, der mit unserem Orgelprofessor Gehrmann in Hellwedel befreundet ist. Gehrmann hat Frey als begabten Schüler empfohlen, und Johnson hat ihn darauf für die Ferien eingeladen. Damit es unkostenmäßig ermöglicht werden kann, nimmt Gehrmann dann seinerseits einen jungen Engländer auf. Also ein Schüleraustausch privat.“
„Ja, so schilderte es Frey mir auch. Ich bin überzeugt, daß er sich nicht abhalten läßt zu fahren. Nun, als Studienreise ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden.“
„Wir wollen das beste hoffen, aber wenn ich an das treffliche Duo Landhoff-Nietmann denke, bin ich bedenklich. — Nun aber möchte ich mich verabschieden, Herr Direktor, um mich langsam ‚geistig und moralisch‘, wie es jetzt immer so schön heißt, auf meinen Lehrgang vorzubereiten. Ich will doch nun endlich lernen, wie man Jugend anfaßt.“
6.
Indessen war Thomas in rechter Ferienvorfreude nach Hause gegangen, war die Treppe zu seinem Stübchen hinaufgesprungen, hatte vergnügt pfeifend seine Mappe auf ihren Platz geworfen und mit den Reisevorbereitungen begonnen. Je eher er weg war, desto besser. Dann konnte wenigstens nichts mehr dazwischen kommen. Wenn er nur erst im Zuge säße! Und den Abschied hinter sich hätte . . . Gerade jetzt, nach dem unvergeßlichen Sonntagnachmittag, sollte er sich für fünf Wochen von Gisela trennen. Er trat an das offene Fenster, an welches greifbar nahe die großen Blätter der Linden des Kirchgartens heranreichten. Würde es nicht schöner sein, diese fünf Wochen in Giselas Nähe zuzubringen? Hier zu sitzen und an sie zu denken, den Abend erhoffend, der vielleicht ein Stelldichein brachte? Fast hätte er nun den Reiseplan verwünschen mögen; aber es war nicht mehr zu ändern. Gestern abend hatte er ihr erklärt, warum er trotz aller Schwierigkeiten die Englandreise machen wolle. Sie war sehr traurig gewesen, hatte aber eingesehen, daß es gut für ihn sei zu fahren. Durch die Leiden ihrer Mutter und die vielen Pflichten, die sie so jung übernehmen mußte, war sie es gewöhnt, eigene Wünsche zurückzustellen. Sie hatte an eine Wanderung zu viert gedacht, wenigstens in der letzten Ferienwoche, wenn sie von der Mutter weg gekonnt hätte. Karl wollte ja auch zu Hause bleiben, falls man ihn nicht zwingen würde, in ein Zeltlager zu gehen. Damit mußte er allerdings rechnen, denn Pastor Machenberg hatte bereits einen Brief bekommen, in dem er von der Gebietsführung gefragt wurde, ob er es etwa sei, der den Sohn davon abhalte, an dem Zeltlager teilzunehmen.
Thomas begann zu überlegen, was er auf die Reise mitnehmen müsse. Nein, es war nichts mehr zu ändern. Und schließlich lockre ihn ja auch die Reise, die Ferne, die neuen und schönen Erlebnisse, die er erwartete. Gisela war ganz ernst gewesen, als er ihr davon vorgeschwärmt hatte. Ja, er dachte immer nur an sich. Für sie würde es viel schwerer sein: sie blieb zurück bei der kranken Mutter, bei dem gefährdeten Vater.
Da klopfte es, und Peter Möhlen trat ein. In seiner raschen Art blickte er um sich:
„Na, Thomas, du steckst ja ganz in den englischen Reisevorbereitungen. Vergiß den Baedecker nicht!“
„Danke, Peter, aber du kommst bestimmt nicht nur, um mir das zu sagen.“
„Ja, da hast du leider recht.“
Peter setzte sich auf eine Kante des Schreibtisches.
„Ich muß eine ernsthafte Sache mit dir besprechen. Wir stehen uns nicht besonders nahe, aber du weißt, daß ich dich trotz deiner anderen Art schätze. Deshalb und weil ich hoffe, daß du aus deinen vielen Begabungen noch einmal etwas machst, zum Nutzen unseres Volkes, möchte ich zu meinem kleinen Teil dazu beitragen, daß du nicht vorzeitig gewissen Gefahren erliegst, die du nicht genügend beachtest.“
Thomas lachte etwas gezwungen: „Unser Peter wird feierlich, da bin ich gespannt.“
„Es ist ganz einfach folgendes: Man wünscht nicht, daß du deine Reise ausführst. Ganz offen, ich sprach mit Gebietsführer Landhoff über dich. Wir hätten uns beinahe verkracht. Er ist ein Fanatiker und scheint sich geschworen zu haben, dich zur Einordnung zu zwingen oder dir zu schaden, wo er kann. Und er kann; das übersiehst du vielleicht nicht so wie ich.“
„Es war mir klar, daß er es ist, der mir die Englandreise verderben wollte. Seit dem Streit um das Singen damals ist er mein Feind.“
„Du bist ihm auch vor allen Jungen zu kraß entgegengetreten. Das kann er sich nicht gefallen lassen, wenn er seine Autorität wahren will. Hättest du es ihm unter vier Augen gesagt . . .“
„. . . wäre auch nichts anderes herausgekommen. Er fordert ausschließlich neue Kampflieder, also dumme Texte mit schlechten Melodien. Dafür muß er sich einen anderen Singleiter suchen.“
„Du magst vom künstlerischen Standpunkt aus recht haben, aber klug war deine Haltung nicht; sie war außerdem unsoldatisch und grenzte an Meuterei. — Aber laß dir weiter erzählen. Ich sagte ihm, daß du wahrscheinlich trotz des Verbots der HJ nach England fahren würdest, weil du von einem englischen Musikprofessor eingeladen wärst. Er tobte. Du schienest ja ein Musterprodukt der Erziehung des Studienrats Melk zu sein, der bekanntlich die geistige Opposition in Person sei. Organist seiest du auch, stecktest also mit dem sauberen Pastor Machenberg unter einer Decke, und die politische Einstellung deines Vaters könne man bestenfalls als lau bezeichnen Die ganze Clique müsse man ausräuchern, schrie er. Kurz und gut, ich hatte den Eindruck, Landhoff hat nichts Gutes vor.“
Als Thomas zunächst schwieg, fuhr Möhlen fort:
„Du mußt nun unbedingt für dich behalten, was ich dir eben gesagt habe; auch deinem Vater gegenüber. Ich darf Landhoff keinesfalls in den Rücken fallen. Er ist mein Vorgesetzter. Ich vertraue deiner Verschwiegenheit. Du sollst nur alles wissen, weil du die Lage nicht verkennnen darfst. Ich bitte dich also: Bleibe hier und melde dich in letzter Minute zu dem Zeltlager. Auch Karl Machenberg wird gezwungen werden. Nicht von mir — nebenbei. Wenn du nach England fährst, wird man dich aus der HJ ausstoßen, und wie die Dinge liegen, wird man dir auch das Abitur unmöglich machen wollen. Du kannst dann nicht studieren. Mehr brauche ich nicht zu sagen.“
Thomas stand am Fenster und schwieg noch immer, während Möhlen eine Wiedergabe von Dürers „Hieronymus im Gehäus‘ betrachtete, die über Thomas’ Schreibtisch hing. Thomas wendete sich um und sagte:
„Peter, ich danke dir für deine Offenheit. Ich werde verschwiegen sein. Trotz allem aber kann ich meinen Plan nicht aufgeben. Ich kann mich nicht derartig wankelmütig zeigen.