„Dann ist dir nicht zu helfen.“ Peter wendete sich zur Tür. „Uebrigens, zwischen uns beiden bleibt alles beim alten. Ich hoffe, wir werden uns immer achten können.“
Thomas trat wieder zum Fenster. In ohnmächtiger Wut ballte er die Fäuste. Aber er bezwang die Erregung und verscheuchte die aufkommende Sorge mit einem: „Ha, ich werde es ihnen beweisen!“ Mit wildem Schwung riß er den Koffer vom Schrank und begann zu packen. Aber bald hielt er wieder inne und schüttelte den Kopf. Wie konnten so grundanständige Menschen wie sein Klassenkamerad Möhlen begeistert für diese Partei eintreten? Die „zackige“ Uniform mit den Schnürchen und Litzchen, die immer schöner und glitzernder wurden, je höher der Rang war, mochte ein wichtiger Anreiz sein; aber das erklärte nicht alles. Wahrscheinlich sah eben ein gutwilliger Kopf auch Erbärmlichkeiten in rosigem Licht, wenn ihm nur die Illusion blieb, daß sie nichts anderes seien als kleine menschlich, allzu menschliche Umwege auf dem großen Marsch zu Zielen von erhabener Größe.
Thomas bemerkte erstaunt, wie er immer mehr zu Gedanken kam, von denen er noch vor kurzer Zeit nichts gewußt hatte. Trotz Melks Einfluß, denn Melk sprach selten unmittelbar von Politik. Auch Thomas hatte dieses Gebiet gemieden, nicht zuletzt, weil er sah, daß so viele Menschen durch Politisieren unglücklich wurden. Darum hatte er auch gemeint, der Pastor möge sich fügen. Seinen eigenen Streit mit Landhoff hatte er nie als den Zusammenprall politischer Gegensätze betrachtet, sondern nur rein sachlich. Er wollte und konnte den Kameraden keine schlechte Musik beibringen. Landhoff verlangte das von ihm. Also hatte er ihm öffentlich Unkenntnis und Mangel an Geschmack vorgeworfen und war seiner Wege gegangen.
Politik war bisher in seinem Leben gewesen, was Zeitungen ihm neben Büchern und Musik bedeutet hatten: Eine lästige, nicht recht verständliche Beigabe, mit der die Menschen sich viel Aerger machten, indem sie geringfügige Aeußerlichkeiten ungeheuer wichtig nahmen.
Bei den kleinen politischen Diskussionen mit Peter Möhlen oder anderen Kameraden hatte ihn mehr eine Neigung zu dialektischer Uebung als ein inneres Anliegen gereizt, den Gegenstandpunkt zu vertreten. Sehr bald war er immer ins Philosophieren gekommen, wo ihm die anderen nicht gern lange folgten.
So war er auf das Politische höchstens dort gestoßen, wo es ans Philosophische grenzt, und dort hatte er es oft noch nicht einmal als politisch erkannt. Zum HJ-Dienst in Peter Möhlens Gefolgschaft ging er gerade so oft, wie unbedingt nötig war, um nicht ausgestoßen zu werden, wobei Peter manchmal ein Auge zudrückte, weil er sah, daß Thomas nicht bummelte, sondern durch seine Orgelstunden in Hellwedel und durch das Organistenamt neben der Schule immer vollauf zu tun hatte. Von sich aus wäre Thomas vielleicht gar nicht in die HJ eingetreten, aber alle sagten, er käme dann nicht in die Oberstufe des Gymnasiums, könne das Abitur nicht machen, und an eine Karriere später wäre nicht zu denken. Etwas Großes, Tüchtiges aber wollte er doch werden. Wie der Vater es wünschte, so dachte auch er sich gern als berühmten Professor, vielleicht Rektor, an einer großen Universität, gefeiert von Studenten und Kollegen, Ehrenmitglied vieler Akademien. Zwar gestattete er sich selten solche Wunschträume, weil er ein ausgeprägtes Schamgefühl für Eitelkeiten hatte, aber er wollte doch den Lebenswunsch des Vaters nicht enttäuschen und hoffte ihm vorzuarbeiten, wenn er das hohe Ziel recht fest ins Auge faßte.
Alles mußte diesem Ziel unterstellt werden. So trat er auch in die HJ ein; der vorgefaßte Lebensweg sollte nicht aus Bequemlichkeit gefährdet werden. Hatte er es auch bis heute nicht zu einer vollständigen Uniform gebracht und war er deshalb auch schon von außen als räudiges Schaf kenntlich, so hatte ihm doch, besonders am Anfang, manches Spaß gemacht; namentlich Sport und Fahrten. Vor Kundgebungen, Schulungsabenden und Propagandamärschen, wo man einen Wimpel oder einer Trommel heiser singend nachzutrotten hatte, drückte er sich regelmäßig.
Thomas politischer Werdegang war also alles andere als mustergültig. Aber erst jetzt, als man ihm einen schönen Plan, einen großen Wunsch verderben wollte, da er politisch unzuverlässig sei, begann seine fügsame Gleichgültigkeit einer bewußten Opposition zu weichen; seine Kritik konnte nicht länger theoretisch bleiben, sie mußte praktisch gelebt werden, wenn er sich nicht selbst untreu werden wollte.
Nein, er mußte nach England, wenn auch alles sich dagegen verschwor. Es würde sich so bald nicht wieder eine solche Gelegenheit bieten, den Gesichtskreis zu erweitern und musikalisch so entscheidende Anregungen zu empfangen, wie sie ihm Gehrmann von der Begegnung mit Professor Johnson versprochen hatte.
Die Mutter kam herauf, ein frisch gebügeltes Hemd über dem Arm, das sie in den Koffer legte. Sie strich Thomas über die Hand und sagte:
„Hoffentlich kommst du recht reich an Erlebtem zurück, mein Junge. Aber auch mit einer tiefen Sehnsucht nach deiner Heimat, deinem Elternhaus, denn hier ist der Frieden, und den findest du nirgends sonst in der Welt.“
Thomas blickte sie fest an:
„Hab keine Sorge, Mutter, es wird alles recht geschehen.“
7.
Studienrat Dr. Melk saß in seiner kleinen Studierstube bei der Lampe. Er bewohnte eine einfache Wohnung am Rande der Stadt. Für das Nötigste im Haushalt sorgte eine Witwe aus der Nachbarschaft, Frau Schnelle, die aber nur vormittags, in des Doktors Abwesenheit, wirken durfte. Sie kaufte auch für ihn ein. Mittagbrot aß er im „Goldenen Löwen“, und was er sonst brauchte, machte er sich nun schon lange allein. So lebte er karg und ohne Luxus — ein entsagender Philosoph, abgesehen vielleicht von einer Neigung für konzentrierte Geistigkeit, auch in Form von Getränken. Dennoch hatte ihn nie jemand unbeherrscht gesehen.
Nicht immer hatte Dr. Melk so einsam gelebt. Von seinem früheren Leben wußte man freilich in Brösenheim nur wenig. So frei und offen er sonst über alles Auskunft gab — warum er nach Brösenheim gekommen war, und was vorher geschah, das wußte nur der Oberstudiendirektor Sternhaus in groben Umrissen aus den Akten, worüber er jedoch Stillschweigen bewahrte.
Dr. Melk war als geschiedener Mann vor über zwanzig Jahren aus Berlin nach Brösenheim gekommen. Wer ihn hier sitzen sah, bei vielen Büchern und Schriften, Tabaksqualm um sich blasend und manchmal die widerspenstige graue Mähne mit den feinen schlanken Händen zurückstreichend, im schäbigen Rock, der hätte in ihm nicht den glänzenden Gesellschafter wieder erkannt, der in Berlin an der Seite seiner schönen Frau ein großes Haus geführt hatte. Seine literarischen Abende waren berühmt gewesen, und es hatte als Ehre gegolten, im Hause Melk zu verkehren. Dr. Friedrich Melk war damals eine der jungen Hoffnungen der philosophischen Fakultät an der Universität. Seine Frau war sehr reich und eine gefeierte Sängerin, die nie ganz darauf verzichten konnte, vor dem großen Publikum zu glänzen. Daraus erwuchs dann auch alles Unglück. Kurz bevor er die Professur bekommen sollte, war in wenigen Wochen alles um ihn her zusammengestürzt, und nur langsam hatte er sich aus den Trümmern aufgerafft, um ein neues Leben zu beginnen. Die Umstände, die zu der Trennung von seiner Frau geführt hatten, stellten ihn gesellschaftlich bloß und machten ihn arm. Er verzichtete auf allen Gelehrtenehrgeiz, lebte zunächst einsam und verborgen und nahm endlich ein Anerbieten an, das ihm ein Freund in einem Provinzialschulkollegium verschaffte. Dieses Anerbieten betraf seine jetzige Lehrerstelle am Gymnasium in Brösenheim.
Als ein langsam Genesender fand er sich nicht leicht in die neue Umgebung. Bald aber machte ihm der Schuldienst mehr Freude, als er je für möglich gehalten hatte, und mit der Zeit nahm er auch die eine oder andere eigene Arbeit wieder auf. Von dem Ehrgeiz, in der Wissenschaft einen Namen zu erwerben, wandte er sich ab und verbrauchte seine Kraft ganz im Dienste der Erziehung seiner jungen Schüler und in einsamer, stiller Arbeit, über die er sich höchstens dem Buchhändler Frey gegenüber äußerte, wenn er ein einschlägiges Buch bestellte.
Seinen Schülern wollte er mehr sein als eine unnahbare Lehrkraft. Viele hatten in ihm den väterlichen Freund kennengelernt. Mehr als ein verzweifelter junger Mensch hatte schon in seiner verqualmten Studierstube gesessen. Immer wußte Dr. Melk einen Weg. Oft unterstützte er nicht