Thomas ging wieder wohlgemut zur Schule. Nach den Aufregungen bei seiner Heimkehr von England schien wieder alles im rechten Gleis. Wenn er die Kameraden abends oder an Sonntagen zu ihrem HJ-Dienst gehen sah — manche eilig und in stolzem Vollgefühl ihrer Wichtigkeit, andere etwas mißmutiger, alle aber von der Gewohnheit bezwungen und schon unfähig geworden, es noch anders zu wünschen, dann blätterte er schmunzelnd eine Seite in dem Buche um, das er gerade las — droben in seinem Stübchen, wo es so ganz besonders still sein konnte, an regenduftenden Herbstabenden bei offenem Fenster. Oder er begab sich zum Ueben und verfiel für mehrere Stunden der Orgel. Oft wurde es Nacht um ihn, wenn ihn die Musik einmal ganz besonders gepackt hatte. Langsam fühlte er sich immer tiefer eindringen in das Klingen der großen Harmonie, in diese reinste Schönheit, welche Menschen schaffen und begreifen können. Seit er in England viel auf dem Cembalo gespielt hatte, wünschte er sich, nun auch hier, neben der Orgel, auf diesem alten Instrument einer versunkenen Zeit spielen zu können; einer Zeit, in der man sich noch auf ein rauschendes, festliches Musizieren ebenso gut wie auf ganz intime, zärtliche Melodien und auf die starke Tiefe der großen Kirchenmusik verstanden hatte. Mit einem Schüler Johnsons, einem Flötisten, hatte er die Flötensonaten Händels kennengelernt, und nun schwärmte er mit Gisela davon, später — vielleicht in einem eigenen Heim — zusammen mit ihr diese Flötensonaten zu spielen. Gisela übte schon fleißig dafür.
Wenn er so am Bilde ihrer gemeinsamen Zukunft malte, hörte sie ganz still zu und streichelte nur leise seine Hand.
Ihr Wiedersehen, als Thomas aus England kam, hatte ihnen gezeigt, wieviel sie einander waren. Zuerst hatte Gisela dem weitgereisten und von der Seeluft gebräunten Thomas ganz schüchtern gegenübergestanden. Beim ersten Alleinsein aber war alles zwischen ihnen gewesen wie zuvor. Nur noch reicher beschenkt — einer durch die Gegenwart des anderen — kamen sie sich jetzt vor. „Und du hast dich auch wirklich in keine schöne Engländerin Verliebt?“ hatte sie halb schelmisch, halb ängstlich gefragt. Er erzählte ihr von dem frohen Schülerkreis um Professor Johnson, dem er vier Wochen angehört hatte. Wieviel er gelernt habe, daß er sich sehr schnell mit allen verstanden habe, nicht nur in der Sprache, sondern auch in den rein menschlichen Beziehungen. Wie zudem ja immer die Musik das gemeinsame, verbindende Ziel gewesen sei.
Auch daß man dem „Neuen Deutschland“ drüben nicht besonders viel Sympathie entgegenbringe, hierüber hatte er zumal mit dem Vater und Dr. Melk geredet. Ja, man sei recht offen gewesen. Das neue Regime stoße mit seiner Kraftmeier-Bluff-Methode alle Diplomaten der Welt unablässig vor den Kopf. Es gebärde sich, als wenn das Deutsche Reich eine Insel sei, die völlig isoliert liege, und auf der man darum tun könne, was einem gerade einfalle. Man vergesse offenbar, das im alten Europa und auch sonst in der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts die Staaten eng miteinander zusammenhängen, und daß irgendwelche Gewalttaten eines Staates gleich die ganze Welt in Aufruhr bringen müssen — ähnlich wie eine Lawine die Schneemassen ganzer Berghänge abrutschen läßt. Man hoffe, das Volk der Dichter und Denker werde nicht plötzlich einen Amoklauf beginnen wollen.
Auch zu Peter Möhlen sprach Thomas darüber. Der verzog höhnisch den Mund:
„Ja, ja, das Volk der Dichter und Denker! Man wird sich diese zahme Formel abgewöhnen müssen, mit der man uns solange eingesperrt hat, wie einen gutmütigen Bären, der zwar klug, musikalisch, künstlerisch ist, aber eben immer brav nach der Pfeife anderer tanzte, die ihn mißtrauisch bewachten. Der Bär ist aufgewacht!“
„Und wird nichts als Unheil anrichten, wenn er sich wie ein wildes Tier gebärdet“, entgegnete Thomas.
„Wenn schon“, sagte Peter, „so ist es doch besser zu herrschen, als beherrscht zu werden.“
Thomas konnte darauf nichts mehr erwidern, weil die Schulglocke sie ins Klassenzimmer rief. Ihr kurzes Gespräch hatte sich in der Pause nach einer Turnstunde abgespielt. Jetzt gab es Physik. Es gelang Thomas nicht, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Er versuchte, sich klar darüber zu werden, warum Peter Unrecht hatte, aber es fielen ihm so viele Gesichtspunkte ein, die dafür und die dagegen sprachen, daß er nach der Schule ziemlich verwirrt nach Hause ging.
Am Nachmittag brachte er ein entliehenes Buch zu Dr. Melk zurück. Der alte Lehrer hatte seinen schlechten Tag. Es befiel ihn manchmal ein tiefer Mißmut. Die Trostlosigkeit seines einsamen Lebens stand ihm dann deutlich vor Augen, alle gescheiterten Hoffnungen erwachten für Sekunden, um ihn nur desto mehr erkennen zu lassen, wie wenig geblieben war. Er beherrschte sich, so gut es ging; im Unterricht merkte ihm selten einer etwas an — nur daß er reizbarer war als sonst.
Eben jetzt war er von einem Spaziergang zurückgekehrt, der ihn etwas erfrischt hatte. Aber als er seine Stube wieder betrat, sah ihn die Einsamkeit aus all der Unordnung an. Selbst die Bücher, seine einzigen Freunde, schienen ihm jetzt nur Zeugen seiner Freudlosigkeit. Da standen sie in Reihen oder lagen umher, bedrucktes Papier, unlebendiger Ersatz für wirkliches, warmes, grausam-schönes Leben. Ihre prächtigen oder einfachen oder abgegriffenen Rücken standen steif und fahl in dem schwindenden Licht des grauen Herbsttages, der durch das Fenster sah. Melk erkannte in ihm das Abbild seines eigenen Lebens. Er trat an das seit vielen Jahren nicht geputzte Fenster, lehnte die Stirn an das kalte Glas und sah dem Winde zu, der mit gefallenem Laub spielte — wie das Schicksal mit uns, dachte er.
Es klingelte. Er schrak zusammen, fuhr sich durch das abstehende Haar und ging, um zu öffnen.
„Ach, Thomas, du bist es“, begrüßte er den Eintretenden. Ausgerechnet heute mußte der Junge kommen.
Thomas setzte sich, während der Studienrat, die Hände in den Hosentaschen, im Zimmer auf und ab lief. Allmählich kam ein Gespräch zustande, und schließlich war Melk froh, daß ihn etwas ablenkte. Er zwang sich, auf Thomas’ Worte einzugehen. Dieser hatte einige Fragen zum griechischen Drama. Danach plauderten sie noch etwas. Melk setzte sich in seinen Lehnstuhl, suchte eine Zigarre und Streichhölzer, brannte eine Kerze an, denn er unterhielt sich ungern bei greller Beleuchtung, und begann langsam wieder ein gewisses Behagen zu spüren.
Thomas erwähnte nun auch sein Gespräch mit Peter Möhlen vom Vormittag. Melk sog kräftig an seiner Zigarre und sagte, während er den Rauch durch die Nase ausströmen ließ:
„Das mit dem Bären ist nett. Aber — wozu haben wir die Vernunft? Im Gegensatz zu Bären? Gewiß stehen auch wir Menschen in einem harten Lebenskampf. Aber muß man denn aus Not — denn man kämpft doch zunächst aus Not um sein Leben —, muß man aus dieser Not eine Tugend machen? Und dann auch noch gleich die höchste? Das aber tun unsere heroistischen Bannerträger und Paukenschläger. Den „furor teutonicus“ wollen sie wecken, die wilde Kampfeslust, die sich eher selbst zerstört, als vom Kampfe abläßt. Darum das Gerede von der nordischen Ueberwertigkeit, darum ein allgemeines Fanatisieren. Es kann aber unmöglich das Ziel der Menschheit sein, rohe Gewalt zu entfalten. Der kämpferische Trieb muß dem Geist unterworfen bleiben, der ihn zähmt und mäßigt. Dadurch allein wird das menschliche Tun human.“
„Aber war diese glückliche Verbindung von Krieg und Geist jemals Wirklichkeit in der Geschichte?“
„Einmal zum Beispiel in recht hohem Maße im alten Griechenland. Der Grieche war diesseitsfroh und stark, aber er vergaß darüber nicht das Reich der inneren Werte. Gern ergab er sich auch dem Zarten und sinnlich Angenehmen, ohne Angst, ob auch die Uniform gut sitze, ohne zu fürchten, an heldischem Renommee einzubüßen. Er konnte es sich leisten, unheroisch zu erscheinen, weil er den Adel der Gesinnung hatte, der den Helden ausmacht. Der Urgegensatz von Geist und Natur beherrschte auch den Griechen. Auch er hatte starke Neigungen zum hemmungslosen, triebhaften Sichausleben. Aber im Entscheidenden stand ihm Apoll doch über Dionysos“
„Das war Athen, Herr Doktor. Aber Sparta . . .“
„Ja, wir finden für alles ein Beispiel in der Antike. Der Spartaner verachtete und fürchtete den Geist, weil er keinen besaß, und versuchte ihn durch rohe Gewalt zu ersetzen. Er verstand seine Triebe nicht vernünftig zu lenken, deshalb unterjochte er sie mit Brutalität, um doch auch eine Rolle spielen zu können; denn Selbstzucht ist nun einmal die Voraussetzung