„Komm, sieh ihn dir noch ein letztes Mal an“, sagte Mutti. Aber Lela zitterte – das war nicht Ali, nein, diesen Ali wollte sie nicht ansehen.
Dann kam der Morgen, wo man ihn wegtragen würde. Lela stand am Fenster und sah, daß Alis Schulkameraden auf der Straße und im Garten aufgebaut standen wie Soldaten. Lela war stolz, daß sie da waren. Nun standen alle um den Sarg, die Offiziere vom Regiment, ganz unbeweglich in ihren Paradeuniformen, Helm mit Helmbusch im Arm, die Hände auf dem Säbel gefaltet. – Wie Denkmäler, dachte Lela. Mutter saß umgeben von Frauen unter einem schwarzen Schleier, ganz unsichtbar. Der Pfarrer sagte schöne Worte zu Mutti, die Lela nur halb begriff. – Aber dann setzte draußen die Musik ein, eine ganz langsame, traurige Melodie – und da endlich begann das Kind, furchtbar und unaufhaltsam zu weinen.
Es kamen die täglichen Friedhofsbesuche. Der Friedhof flößte Lela Furcht ein. Es war ihr Amt, Wasser vom Brunnen zu holen, um die Blumen an Alis Grab zu begießen. An der Pumpe stand angeschrieben, es sei verboten, von diesem Wasser zu trinken. Das Wasser war nicht sauber. Es floß an Leichen vorbei, so erklärte auf Lelas Fragen die Mutter.
Wenn Lela die Augen zukniff, sah sie die Leichen liegen. Alle unter der Erde, eine unübersehbare Schar, steif wie Ali gelegen hatte. „Und später sind nur noch ein paar Knochen übrig“, sagte Berti.
Das Schlimmste war aber ein Komposthaufen, der außerhalb der Friedhofsmauer auf einem tiefgelegenen, ebenfalls ummauerten Terrain seine Stätte hatte. Dorthin mußte Lela die welken Kränze tragen, während Mutter betend allein am Grabe zurückblieb. Dieser Haufen rauchte, er war für das Kind nicht tot und nicht lebendig. Der Verwesungsgeruch all der Buketts mit Schleifen, der rostige Draht, die braunen schleimigen Blumen, hier und da ein Stück Flor, ein Blechkorb, eine zerbrochene Vase flößten Manuela noch mehr Angst ein als die wohlgepflegten Reihengräber, unter denen sie die Leichen liegen wußte. Sie war jedesmal froh, wenn sie von dort wieder bei Alis Grab anlangte, wo Mutter auf einer Bank saß und still vor sich hin starrte oder die gelb gewordenen Efeublätter vom Grabe las.
Am Gedenkstein ihres Bruders machte die kleine Manuela die ersten Lesestudien. Sie litt darunter, nicht alle Aufschriften auf sämtlichen Grabsteinen lesen zu können, denn sie sehnte sich nach einem Zeitvertreib für die langen Stunden, die Mutter, tief versunken, bei Ali zubrachte. Und so lernte sie lesen, kaum daß die Mutter, mit all ihren Gedanken ungegenwärtig, es gewahr wurde.
Mutter war verändert seit Alis Todesstunde. Lelas kleines liebebedürftiges Herz fühlte es wohl und zog sich zusammen, wenn sie Mutter dort sitzen sah, eine in sich gekehrte, trauernde Frau, fern allen Lebenden, und wie daheim in einer Welt, vor der Manuela sich fürchtete.
Und jeden Abend, wenn die Sonne unterging und es Zeit war aufzubrechen, hörte sie, wie Mutti leise wehmütig sagte: „Gute Nacht, mein Junge“, und es war, als spräche sie zu einem, der sie hörte.
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