„Das ist doch nicht so schlimm, Lela“, meint tröstend Fräulein Anna. „Wir nähen das Loch wieder zu.“
Aber Lela schreit nur um so gellender, gefoltert von dieser Vorstellung:
„Nicht nähen, bitte, bitte, nicht nähen!“
Mutter nimmt sie in die Arme.
„Nein, mein Liebling“, sagt sie beruhigend, „das brauchen wir ja auch gar nicht, das wächst von selber wieder zu.“
Ali und Mutti müssen beide neben Lelas Bett sitzen bleiben, bis sie eingeschlummert ist. Noch im Schlaf zuckt sie zusammen. Ihre kleine Hand hält sie fest über Bärs Wunde, bis Ali heimlich der tief Schlafenden das Spielzeug entwenden kann und Mutti den Schaden beim Lampenlicht repariert. Erst als Bär, nur etwas schlanker geworden vom starken Blutverlust, wieder auf seinem Platz an Lelas Brust liegt, kann Ali sich mit gutem Gewissen zu Bett legen.
Die beiden Geschwister sehen sich nicht ähnlich. Lela schlägt eher dem Vater nach, während Ali, der kluge, ruhige Ali, mehr blond ist und der Familie der Mutter gleicht. Aber trotzdem gehört Ali zu Lela. Immer ist er da, wenn Lela ihn braucht. Berti ist ja noch ein richtiger Junge, er zieht Lela an dem spärlichen Zöpfchen, das sie trägt und das ihr ohnehin Kummer genug bereitet, er versteckt ihr die Schnuckis, er holt sich aus ihrer Puppenküche die Teller, um seine weißen Mäuse daraus zu füttern.
„Berti, du sollst das nicht!“ weint Manuela. „Dann kann doch Laura nicht mehr daraus fressen, Laura findet, weiße Mäuse riechen schlecht.“
Aber dann steht Ali da. Er findet die Schnuckis, er entreißt Berti die Puppenteller, er sägt und bastelt Spielzeug für Lela, zwei ganz winzig kleine Puppenstübchen aus Ziehknochen von Pöchliner Gänsen zaubert Ali, der kunstreiche Ali, für Lela. Er setzt Lela auf sein Fahrrad und führt sie im Garten herum. Das ist das Schönste und zugleich Ängstlichste, was Lela sich denken kann. Die Beine baumeln links und rechts herunter, und man muß den Oberkörper weit vorbeugen, damit man die Lenkstange zu fassen bekommt. Manchmal zittert sie zu fallen, aber immer wieder ist es Alis große Jungenhand, die sie festhält.
Muttis Geburtstag. Das fühlt man kommen im Haus. Mutti ist im Mai auf die Welt gekommen. Lela ist seit langem geistesabwesend. Wenn Mutti sie etwas fragt, muß sie immer an ihr Geheimnis denken, an das, was sie Mutti schenken wird, und was sie nicht verraten darf, weil es eine Überraschung ist. – Aus Angst, davon zu reden, kann sie gar nicht antworten. Wenn Mutti ins Kinderzimmer kommt, ruft Lela: „Mach die Augen zu!“ – bis sie ihre Stickerei versteckt hat. „So, jetzt!“, und die gehorsame Mutti öffnet die Augen.
Ist Mutti gegangen, kommt das Deckchen wieder zum Vorschein. Ein weißes Deckchen, auf dem Rosengirlanden mit hellem Blaustift vorgemalt sind. Lela hat grüne Seide, ganz weiche schillernde Fäden, die sind für die Blätter. Dann hellrosa und rote für die Blüten. Es ist furchtbar schwer, so einen Faden in das Nadelöhr zu kriegen. Das Öhr ist klein, und die Seidenfäden spalten sich, und dann muß man sie ein bißchen lecken und mit Daumen und Zeigefinger zwirbeln. Aber dann wird der Faden immer ein bißchen dreckig. Lela seufzt tief auf. Es ist ihr ganz heiß vor Anstrengung. Aber der Tag kommt. Aus Pöchlin ist ein Riesenpaket gekommen mit allerhand Herrlichkeiten von Großmama. Im Salon wird ein weißes Tischtuch auf den Mitteltisch gedeckt. Eine Torte mit Lichtern – furchtbar viele. Mutti muß lange im Bett bleiben heute. Erst wenn Papa vom Dienst kommt, wird beschert. Es kommen Blumen über Blumen. Ein ganzer Fliederstrauch in einem Topf. Bunte Tulpen und Anemonen. Das ganze Regiment schickt Grüße. Papa hat schöne Sachen gekauft, was Silbernes und was ganz Kleines in einem Etui: ein Ring mit einem Sternchen aus Türkisen. Lelas Deckchen, gewaschen und fein ausgebügelt, liegt ganz vorn. Ali hat einen Kasten gesägt und Berti ein wunderschönes Blatt geschrieben. Es ist ein großer doppelter Papierbogen mit Blumen und Engeln darauf. Und da steht in ganz feiner Schrift, wie Berti sonst nie schreibt, ein großer Glückwunsch. Wie eine ernste Urkunde sieht es aus, und darunter steht: „Dein getreuer und dankbarer Sohn Bertram.“
Auf einmal kommen Soldaten in den Garten. Sie stellen sich in einem Kreis auf, in die Mitte der Kapellmeister, und Papa geht in Muttis Zimmer mit einem Blumenstrauß und küßt Mutti, Lela im weißen Kleid und einer Rosenschärpe hinterher, und beide Jungens in neuen Matrosenanzügen genieren sich wegen der Feierlichkeit. Unter den Klängen der Geburtstagsmusik wird Mutti zu ihren Geschenken geführt. Sie umarmt alle, und ihre Backen sind ganz rot, und dann kommen viele, viele Besucher und gratulieren Mutti. Und Fräulein Anna hat nicht genug Blumenvasen. Lela darf die Torte anschneiden und sie der Musik hinuntertragen in den Garten, und Ali trägt Gläser und Berti den Wein. In der Küche brutzelt eine Pöchliner Gans. Und Papa hat staubige Finger, weil er eine ganz alte Flasche Wein aus dem Keller geholt hat, und die darf man nicht abwischen, damit jeder sieht, daß sie echt ist.
Heute sind alle, alle lieb mit Mutti. Und es duftet im ganzen Hause nach Rosen und Flieder und Kerzen und Kuchen. Und immerzu kann man zu Mutti kommen, denn heute darf sie nichts tun. Nicht flicken, nicht in die Küche gehen, nicht rechnen – nur auf dem Sofa sitzen und schön sein. Und Lela krabbelt auf ihren Schoß und schließt fest beide Arme um ihren Hals.
„Mutti, Mutti, Mutti, ich hab’ dich so furchtbar lieb!“
„Ali, laß mich auf deinem Fuß wippen!“ bettelt Manuela. Ali weiß wohl, daß das Lelas ganz großes Vergnügen ist: er muß die Beine kreuzen, und Lela stellt sich auf den schwebenden Fuß und schaukelt so auf und nieder.
Aber Ali ist heute so abwesend.
„Lieber nicht, Lela. Ich habe Kopfweh“, sagt er, und Lela geht um Ali herum wie ein kleiner Hund, der fühlt, daß irgend etwas nicht stimmt.
Ali will auch nicht essen. Er will nicht weggehen, nicht Fußball spielen. Ali legt sich ins Bett. Drei lange Tage Blutegel! Lela ekelt sich furchtbar: Dicke schwarze Würmer sind das mit Alis Blut drin.
„Wozu ist das, Mutti?“
Mutti nimmt Lela an der Hand. Ali liegt im Bett, ganz steif, aber seine Augen suchen die Tür. Er fragt Lela, die auf ihrer Mutter Schoß sitzt:
„Ist das der Lehrer?“
Wie – kennt Ali denn Mutti nicht mehr? –
Lela verkriecht sich scheu an Muttis Brust, die trocken aufschluchzt.
Ali starb in derselben Nacht.
Ungewöhnlich früh wurde Lela am nächsten Tage geweckt. Berti stand mit nacktem Oberkörper im hellen Sonnenlicht. Geräuschlos weinte er vor sich hin, und Lela sah, wie seine Tränen eine nach der anderen an ihm herabliefen. Er verzog kaum sein Gesicht, vergaß nur, sich anzukleiden, stand, stand und weinte.
Fräulein Anna, die Lelas Haare kämmte, sagte ihr, daß Ali nun im Himmel sei.
„Ja“, sagte Manuela bloß, und nichts rührte sich in ihr. Nichts tat ihr weh. Es war heute nur alles so anders im Hause als sonst. Oft und öfter ging die Hausglocke. Zu Mutter huschten schwarze Damen ins Zimmer. Drinnen war es still. Manche dieser Besucherinnen legte die Hand auf Lelas Kopf: „Arme Kleine, daß sie das schon erleben muß!“
Lela versuchte, das rechte Gesicht dazu zu machen, denn sie begriff allmählich, daß sie bedauernswert war. Alles war doch sehr aufregend und interessant. Es kamen Telegramme und Blumen. Es kamen auch Verwandte, es kamen Wagen mit schwankenden Lorbeerbäumen, das ganze Haus duftete wie eine Gärtnerei. Man stellte die Hausglocke ab. Das Läuten tat Mutter weh.
„Komm zu Ali“, sagte jemand, und Lela stand an einem großen Kasten, in dem Ali schlief. Es war alles gar nicht mehr wie zu Hause – es war auch ein anderer Ali. Er hatte Blumen in der Hand und ein Kreuz – Kerzen brannten, und der ganze Raum war voll grüner Pflanzen wie ein Wald. Schön war das. Vielleicht war es so ungefähr in der katholischen Kirche.
Alle weinten. Lela schämte sich, weil sie nicht weinen konnte. Und erst als sie Mutter aufschluchzen hörte, stürzte sie auf sie zu und klammerte sich an ihre Kleider.
„Nun