Eine Weile ist Ruhe, dann kommt es zögernd von Lela:
„Ja, Mutti ...“
Draußen auf der Straße ist Pferdegetrappel. Es rast ein Wagen vorbei. Im Hause ist Stille. Die Buben sind schon in der Schule, und das Kinderfräulein ist in der Kirche.
„Mutti, warum geht Fräulein Anna jeden Morgen in die Kirche?“
„Weil sie katholisch ist.“
„Warum gehen wir nur Sonntag morgens?“
„Wir sind evangelisch.“
„Ist Fräulein Anna frommer als wir?“
„Nein, wir gehen ja auch manchmal wochentags nachmittags.“
„Ja – aber Mutti, eigentlich muß es schön sein morgens, wenn es noch dunkel ist in der Kirche, oder abends, wenn Lichter brennen.“
„Der liebe Gott ist immer da, Lela, auch am Tag.“
„Ja, Mutti.“
Dies, daß der liebe Gott immer da war, war für Lela ein bißchen unheimlich. Lieber sollte er in der katholischen Kirche sein, von der sie nun einmal nicht loskam.
Diese katholische Kirche war das Aufregendste, was es für Lela in Dünheim gab. Den Mittelpunkt der kleinen sauberen Stadt in Süddeutschland bildete das neue Schloß, das sich der Großherzog erbaut hatte. Davor lag ein großer Platz mit Bäumen und Promenaden. Jeden Mittag spielte dort eine Militärkapelle, und die Leute, die Zeit hatten, gingen da auf und ab. Von dort führte eine schöne breite Straße zu dem Denkmal eines alten Großherzogs. Am Hoftheater und am alten Schloß vorbei kam man in die sogenannte Altstadt. Winkelige kleine Straßen, in deren Mitte der Markt lag. Zwischen dem neuen Schloß aber und demjenigen Stadtteil, wo einzelne Häuser in Gärten lagen und auch Manuelas Elternhaus stand, lag die katholische Kirche. Lelas Weg in die Stadt führte stets daran vorüber oder vielmehr darum herum. Es war ein sonderbares rundes Gebäude. Die Wand war vollkommen kahl und fensterlos. Ohne jeden Schmuck. Nur dünne Linien, dort, wo ein Quader auf dem anderen stand, waren sichtbar. Das Ganze war gedeckt von einer ziemlich flachen Kuppel aus kaltem Schiefer und mutete eher an wie ein Gasometer oder eine Riesenschachtel als eine Kirche. Wäre nicht über dem bescheidenen Eingang ein Kreuz angebracht gewesen, hätte man es auch für eine Art Zirkus halten können.
Die Undurchdringlichkeit dieser feindlichen Mauer, dieses fensterlos verschlossenen Hauses, aus dem eintöniger Gesang und Orgelklänge ertönten – wenn man sehr viel Glück hatte, konnte man ganz von weitem Kerzenschimmer im Dunkeln ahnen –, erregte Lelas Phantasie. Fräulein Anna hätte sie ganz gewiß gern mitgenommen. Aber Mutti würde das nie und nie erlauben. Das wußte Lela. Und fühlte es an dem Ton, in dem Mutti antwortete, wenn Lela sie nach der runden Kirche fragte.
Lela forscht, als sie vorübergehen:
„Fräulein Anna, wie ist es da drin?“
„Ach, sehr, sehr schön, Lela!“
„Fräulein Anna, ich möchte doch so furchtbar gerne einmal ...“
„Mutti will das nicht haben – du hast ja auch eine Kirche, nicht wahr?“
„Ja, Fräulein Anna.“
„Na siehst du. Und wenn du brav bist, dann geht Mutti mit dir Sonntag morgen in die Garnisonkirche – nicht wahr?“
„Ja, Fräulein Anna.“
Schweigend gehen sie nach Hause.
Im Augenblick, wo sie in den Garten treten wollen, wird Papas schwarzer Hengst herausgeführt – und Papa neben dem Pferd winkt: Lela, Lela! Und Lela stürzt sich in seine Arme, die sie emporheben in einem Riesenschwung und auf das Pferd setzen. Der Araber tänzelt ein wenig, aber Papa bringt ihn zur Ruhe und schickt sich an, das Pferd über die Straße hinüber zur Reitbahn zu führen.
Lela strahlt. Das hat sie sich immer gewünscht. Fräulein Anna flüstert: „Herr Major, die gnädige Frau ...“ Aber Meinhardis hört nichts, er ist ja so stolz auf seine Tochter, er will sie zeigen!
Die Reitbahn, eine große dämmerige Halle, ist voller Menschen. Damen in Reitkleidern stehen herum, Herren in Uniform oder roten Röcken sind schon aufgesessen. Plötzlich ein jäher glücklicher Schreck: Musik setzt ein. Der Donauwalzer. Lela wird von irgend jemand auf die Tribüne geführt und auf die Rampe gesetzt. Als ob die Pferde nur darauf gewartet hätten, fangen sie an, sich im Galopp im Walzertakt zu wiegen. Es bilden sich Paare: Immer ein Herr und eine Dame. Ganz dicht bei Lela kommen sie vorüber. Da ist Papa – oh, eine hübsche Dame ist das, die mit ihm reitet! Sie hat dicke weiße Perlen in den Ohren und einen kleinen Dreispitz auf und ganz helle blonde Haare und rote Backen. Das Reitkleid ist eng zugeknöpft, aber doch sehr schön, denkt Lela, und Papa, er reitet eigentlich gar nicht – er spricht und lacht mit der Dame, und es ist so, als ob das Lachen ihn schüttelte und gar nicht das Pferd, auf dessen Rücken er den Takt des Schwebens gelassen mitmacht. Beide, Papa und die Dame, grüßen jedesmal zu Lela hinauf, wenn sie vorüberreiten. – Die Pferde fangen an zu dampfen. Ihre Hufe schlagen dumpf an die Bretterbohlen der Rampe. Die Nüstern schnauben. In der Mitte der Bahn steht ein Mann und gibt Kommandos. Da trennen sich die Pferde an der einen Seite, und dann treffen sie sich wieder. Sie ziehen Kreise, große und kleine, einmal schnell, einmal langsam. Lela ist wie im Traum – und mitten darin Papa und die schöne, schöne Dame.
Beim Mittagessen ist es heute sehr still. Ali und Berti löffeln schweigend ihre Suppe. Papa spricht kein Wort, und Ali sieht verstört zu Mutter hinüber. Sie versucht so zu sein wie immer, aber ihre Unterlippe zittert, und sie ißt nicht. Lela hat ein unklares Gefühl, als sei sie schuldig, als habe sie etwas verbrochen. Es war so schön – aber vielleicht darf man es nicht tun? Vielleicht ist es so etwas Ähnliches wie mit der katholischen Kirche? Stumm geht sie hinauf und wagt nicht, wie Alfred es tut, Mutti zu umarmen, nachdem Papa die Türe hinter sich zugeschlagen hat.
Lela geht zu Laura. Laura ist ihre Taube. Sie steckt ihre kleine Nase in die Flügel hinein und küßt Laura ins Genick, da, wo sie ein schwarzes Ringelchen aus Federn hat. Lauras rote Krallenfüße klammern sich um ihre kleinen Finger, Lauras Federn riechen so lau und gut.
„Laura, ich hab’ dich so lieb!“ sagt sie leise, und eine dicke Träne rollt auf die Federn nieder.
Lela hat einen Lappen in der Hand und eine blaue Schürze um, und Mutti auch, und der ganze Tisch steht voll Silber. Leuchter, die man zusammen- und auseinanderschrauben kann, Teller mit lustigen Rändern. Viele, viele Gabeln und Messer. Aber die soll Lela nicht anrühren – sie hat einen silbernen Brotkorb vor sich, der ringsherum ein ganz dünnes Gitter hat, da können ihre kleinen Fingerchen schön hinein und sauber machen. Auf den meisten Tellern steht etwas geschrieben. Zum Beispiel: Unserm lieben Meinhardis zum Abschied von seinem Regiment oder: Erster Preis im Flachrennen. Gedächtnisrennen von Ziethen. Und ein Datum. Von einem liest Mutti vor: „Meiner lieben Kammerkatze“. – „Mutti, was heißt denn das ‚Kammerkatze‘?“
„Kammerkatze? Das war ein Pferd, ein sehr gutes Pferd. Aber Papa hat es verkauft.“
„Warum, Mutti?“
„Weil Papa nicht soviel Pferde haben kann.“
„Warum kann er nicht soviel Pferde haben?“
„Weil das zuviel kostet. Die fressen zuviel.“
„Sie fressen doch bloß Hafer, Mutti.“
„Ach Kleines, das verstehst du nicht!“ – und ein tiefer Seufzer entringt sich Muttis Brust.
Lela fühlt, daß sie nicht weiterfragen soll. Still putzt sie ihr Körbchen. Dann kommt was anderes. „Wir müssen den Tisch ausziehen“, sagt Mutti, und da müssen immer alle helfen.
Da wird der Eßtisch gepackt und einfach nach zwei Richtungen auseinandergezogen. Lela zieht mit, und Flink bellt. Flink ist ein brauner Hund unbestimmter Rasse, der gerne mitredet, wenn etwas Besonderes geschieht, und heute