Dann redeten sie. Lockerer Small talk, Margaret dachte sich, sie müsse jetzt behutsam vorgehen, es erinnerte sie daran, wie wenn man eine Katze hervorlockt; man sitzt eine halbe Ewigkeit in der Hocke und sagt miezmiezmiez. Aber es war ihr auf einmal wichtig herauszufinden, was Vokter (und vielleicht auch Karen) so trieben.
Was sie erfuhr, war, daß Vokter selten zu Hause war. Und daß Karen sich manchmal einsam fühlte. Ganz so hatte sie es sich nicht vorgestellt, als sie zu ihm gezogen war.
»Aber das war natürlich mein eigener Fehler, Mama!«
Karen sah sie mit entschlossener Miene an. »Auch als ich ihn kennenlernte, war er fast nie zu Hause«, sagte sie. Dann wechselte ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte auf ihre Hände. »Aber ich hatte wohl geglaubt, er würde öfter hiersein, wenn ich herziehe.«
Sie richtete sich auf und fügte hinzu: »Aber das ist er nicht, und ich bin sehr müde, wenn ich den ganzen Tag im Kindergarten gewesen bin, insofern ist es schon okay für mich!«
Margaret Moss betrachtete ihre Tochter.
Sie wurde allmählich erwachsen. Moss hätte erleichtert sein müssen, aber ihr war eher traurig zumute. Es ist bekanntermaßen keine ungetrübte Freude, erwachsen zu sein. Und irgend etwas in Karens Gesicht zeigte, daß sie bedrückt war, daß es etwas gab, womit sie nicht herausrücken wollte. Irgendein Kummer. Eine Anspannung über den Wangenknochen, etwas Dunkles unter den Augen.
Was zum Teufel trieben sie eigentlich?
Karen ging hinaus, um Tee zu kochen, und Moss sah sich in dem hellen Zimmer um.
Die Tapeten an den Wänden waren häßlich und voller Risse, aber es waren Plakate angebracht, die das Schlimmste überdeckten. Es gab keinerlei Hinweise über Vokter als Person. Er war offenbar ordentlich. Das waren ehemalige Knastbrüder allerdings auch.
»Ich hatte gehofft, Vokter zu treffen«, meinte sie versuchsweise, als Karen zurückgekommen war.
»Er ist unterwegs«, sagte Karen und sah zur Seite.
»Mit dem Hund?«
»Nein, Vebjørn ist hier.« Karen erhob sich, offensichtlich erleichtert über den Wechsel des Gesprächsthemas. Sie ging zur Tür und öffnete sie. »Vebjørn?« lockte sie. Auf dem Flur war das Geräusch von Tatzen auf glattem Fußboden zu hören, dann steckte der Hund den Kopf ins Zimmer und sah sich um. »Bei Fuß«, sagte Karen. »Bei Fuß!«
Vebjørn war ein großer Hund. Er sah aus wie ein wenig Deutscher Vorstehhund und ein wenig Golden Retriever plus einem zusätzlichen Einschlag von etwas Großem, denn Vebjørn hatte etwas wie von einem zotteligen Bären, als er über den Boden trottete und seine Schnauze zwischen Karens Knie preßte.
»Das macht er immer«, sagte Karen und streichelte das borstige Fell. »Vokter meint, der Hund hat eine harte Jugend hinter sich. Er hatte vor allem möglichen Angst, als Vokter ihn fand. Ich glaube, er fühlt sich geborgen, wenn er so dasteht.«
Der Hund stand ganz still da mit dem Kopf zwischen ihren Knien. Der Schwanz wedelte sachte hin und her.
Da knallte eine Tür, und im Flur redete jemand. Karen hörte auf, den Hund zu streicheln, und blickte Richtung Tür. Moss bemerkte, daß sie angespannt aussah.
Dann kam jemand herein.
Es war Vokter. Er stellte eine große Nylontasche auf den Boden und zuckte sichtlich zusammen, als er Margaret sah. Dann hob er die Hand und lächelte, breit und charmant. »Hallo!«
Von Karen erklang ein hörbarer Seufzer, als sei sie plötzlich erleichtert, dann lächelte sie ebenfalls und sagte: »Hallo! Wir haben Besuch!«
Auch Margaret versuchte sich an einem Lächeln. »Na, unterwegs gewesen?«
Er nickte. Strich sich über den kahlgeschorenen Kopf. Dann setzte er sich auf den Schreibtischstuhl, drehte ihn so, daß er Auge in Auge mit Margaret saß, und lächelte wieder. Er sah aus wie der Traum einer jeden Schwiegermutter, und wenn er dann noch etwas mehr Haare gehabt hätte ...
»Ich hab mich ein bißchen verspätet«, sagte er. »Der Zug hat eine Ewigkeit zwischen Sande und Holmestrand gestanden. Ich weiß nicht, wieso. Hast du schon gegessen, Karen? Ich bin verdammt hungrig.«
»Es gibt Suppe in der Küche«, sagte Karen. »Aber die ist jetzt wohl kalt.«
»Ich mach sie mir heiß«, sagte er, stand auf und ging hinaus.
Karen warf ihrer Mutter einen Blick zu. »Er hat überall da unten Freunde und Familie«, sagte sie rasch. »Sandefjord und Horten und Tønsberg und so. Er ist ja arbeitslos, er hat Zeit, und da fährt er eben hin, um sie zu besuchen. Ab und zu nimmt er da auch einen Job an. Das ist doch nicht so komisch, oder?«
»Nein, nein«, sagte Moss.
Karen erhob sich halbwegs. »Vokter?« rief sie. »Es gibt frisches Brot in ... ach, er hört mich nicht.«
Sie stand auf und verschwand nach draußen.
Margaret erhob sich ebenfalls, war mit einem großen Schritt drüben bei der schwarzen Nylontasche, die offen war, und sah hinein.
Ein Wollpulli. Ein Taschenbuch. Ein Discman. Eine zusammengerollte ›Verdens gang‹. Ein Taschenkalender.
Sie hörte, wie Karen und Vokter in der Küche miteinander redeten.
Blitzschnell öffnete sie den Taschenkalender.
»Vokter«, stand da in schiefer Schrift und darunter in Druckbuchstaben »Vebjørn Valseth, Budalsveien 7, Nøtterøy«. Mehrere zusammengefaltete Zeitungsausschnitte lagen darin, sie traute sich nicht, sie auszubreiten, hier und da war etwas unterstrichen – »... und vertritt die Ansicht, daß die Abtreibung gegen das biblische Wort und Gottes Auffassung vom Sinn des Lebens verstößt ...«, las sie, traute sich jedoch nicht weiterzulesen, sondern steckte den Kalender wieder zwischen den Pullover und die Zeitung.
Karen konnte doch wohl nicht schwanger sein!
Als die Tochter hereinkam, saß Moss in dem gelben Sessel und wippte mit ihrer Teetasse.
»Ich bin froh, daß ich dich besucht habe«, sagte sie in so natürlichem Tonfall wie möglich. »Es ist hier viel schöner, als ich gedacht hatte. Das Haus ist von außen so verfallen, aber hier drinnen ist es ja richtig gemütlich.«
Karen schien erfreut.
»Willst du auch Suppe?«
»Nein danke«, sagte Moss.
Sie fuhr mit einem unangenehmen Gefühl im Magen nach Hause.
Der Gedanke, daß Vokter mehr Dinge trieb, als sie erfahren durfte, und daß Karen offenbar davon wußte und sich Sorgen machte, plagte sie.
Karen konnte nicht schwanger sein, das hätte sie ihr erzählt. Sie hatte früher schon einmal so etwas befürchtet und hatte freiwillig mit ihr darüber gesprochen.
Im nachhinein allerdings, als die Gefahr vorüber war.
Es mußte etwas anderes sein, oder?
Was sie zu Karen gesagt hatte, nämlich daß sie jetzt beruhigt sei, entsprach nicht der Wahrheit, ganz im Gegenteil. Irgend etwas war da im Gesicht dieses kahlgeschorenen Jungen mit den blauen Augen, eine Verschlossenheit, die nicht zu seinem ansonsten so zuvorkommenden und freundlichen Ton paßte.
Sie hatte das Gefühl, als sei er nett zu Karens Mutter gewesen, damit sie sich nicht einmischte.
In was denn einmischte, Moss?
Sie würgte den Motor an der Smestadkreuzung ab, fluchte und startete den Renault noch einmal, dann schlich sie die Hügel hinauf, begleitet vom lautstarken Protest des Wagens.
Als sie nach Hause kam, lagen vier Rechnungen in ihrem Briefkasten sowie ein gelber Briefumschlag ohne Absender. Sie brachte es nicht fertig, die Rechnungen zu öffnen. Sie hatte ohnehin kein Geld, um sie zu begleichen, legte sie zuoberst auf