Welchen Stellenwert hat angesichts der erneuten Ermächtigung des Sohnes Gottes aber nun noch der Satan und seine Gewalten? Was bedeutet es, dass der gesamte Kosmos unter der Herrschaft des Bösen steht (1. Joh. 5,19), oder dass Jesus den Satan als den »Fürsten dieses Welt« bezeichnet (Joh. 14,30)? Selbst eine differenzierte Darlegung der leidvollen inhaltlichen Verwobenheit von Teufel, Welt und Fleisch bzw. Sünde mildert die Schärfe der Fragestellung nicht ab. Eine stärkere Betonung der menschlichen Verankerung des Bösen, wie sie u. a. auch Sherwood G. Lingenfelter 24 oder der niederländische Theologe Hendrik Berkhof 25 sehen, kann nur wenig zur Aufklärung der Fragestellung beitragen. Festzuhalten bleibt, dass es wohl einen nicht zu unterschätzenden menschlichen Verantwortungsrahmen für die Wirksamkeit des Bösen gibt, dass jedoch auch eine handelnde, interpersonale Macht der Sünde existiert.
Deutlicher wird die Fragestellung angesichts der Ausbreitung des Bösen in Politik und Gesellschaft. Theologen aller Zeiten haben versucht, eine Antwort zu geben. Ein neuerlicher, viel beachteter Entwurf wird von dem Theologen Walter Wink in seiner Trilogie zum Thema vorgelegt.26 Winks Interesse ist es, die gesellschaftliche Dimension des Bösen in ihrer Auswirkung theologisch zuzuordnen. Er geht davon aus, dass jegliche Realität eine physikalische und spirituelle Seite hat. Diese spirituelle Seite bezeichnet er als Macht, die in ihrem Ursprung jedoch nicht schon böse sein muss, sondern erst durch die Anwendung böse wird. Erst wenn die Mächte dazu führen, dass ein Mensch oder auch ein System sich gegen Gott erhebt, werden diese Mächte gemäß Walter Wink zu bösen Mächten. Wenngleich dieser Gedanke in seiner Konsequenz von vielen evangelikalen Theologen nicht nachvollzogen wird, so liegt darin doch ein Akzent, der nicht übersehen werden darf. Es geht um die menschliche Verantwortung, die jeder Wirksamkeit des Bösen mit zugrundeliegt. Wenn ein ganzes Netzwerk derartiger Mächte und Gewalten zum Einsatz kommt, um Gott zu entthronen, so spricht Wink von einem »Domination System« (Macht-System), das durch eine entartete Kraft gesteuert wird, die in Anlehnung an Texte aus Offenbarung 13–17 als eine »babylonische Macht« gesehen wird. Wink charakterisiert diese Mächte und identifiziert sie als die in Kolosser 2 erwähnten kosmischen Mächte (soicheia thou kosmou). Durch das Christuszeugnis haben diese Mächte aber ihre eigentliche Kraft verloren; so können auch Machtsysteme gebrochen werden. Wink urteilt aus persönlicher Betroffenheit. Er selber hat sich für die Menschenrechte eingesetzt und sich aktiv an der Abschaffung des Apartheidsystems in Südafrika beteiligt. Sein Beitrag zu einem zukunftsfähigen Weltbild wird deshalb nicht nur bei Christen Gehör finden. Er erweist sich als relevant für die Deutung und Durchdringung gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, die offensichtlich Züge des Bösen tragen.
d) Die Notwendigkeit der Zuordnung von Kultur und Weltbild
Wie bereits erwähnt, ist jede Weltanschauung aufs Engste verknüpft mit der jeweiligen Kultur. Die Basisaussagen eines biblischen Weltbildes lassen sich deshalb auch in den verschiedenen Kulturen wiederfinden. Sie können kulturprägend und kulturstiftend sein; sie sind aber kein Ersatz für Kultur. Was aber ist Bestandteil einer Kultur eines Landes und was ist möglicherweise ein Element einer antichristlichen Weltanschauung?
Gerade in dieser Frage ist die Diskussion in den vergangenen Jahren verstärkt aufgenommen worden. Federführend waren hier die Missiologen, die bemerkten, dass auch nach der Bekehrung von Menschen und Völkern in der Kultur Elemente blieben, die sie zunächst mit den Maßstäben westlicher Kulturvorstellungen als heidnisch bzw. antigöttlich oder dämonisch angesehen hatten. Grundlegend waren hier die Denkansätze Paul Hieberts.27 Hiebert ordnet viele religiöse Aktivitäten der jeweiligen Kultur zu und nicht der Ebene der Religion oder der Weltsicht im engeren Sinne. Damit verstärkt er die missiologischen Bemühungen um eine Kontextualisierung des Evangeliums. – Die Missiologen Charles H. und Marguerita Kraft warnen meines Erachtens zu Recht vor der Gefahr weiterbestehender Bindungen durch dämonischen Einfluss.28 Eine ausführliche Diskussion der Zusammenhänge würde an dieser Stelle den Rahmen der Ausführungen sprengen. Sie müsste jedoch einbezogen werden, wenn der christliche Beitrag zu einem zukunftsfähigen Weltbild Gehör finden soll.
Anmerkungen
1Vgl. Gottfried Holtz: Die Faszination der Zwänge. Aberglaube und Okkultismus. Göttingen 1984.
2Vgl. Giordano Bruno: De l’infinito, universo e mondi. 1583. Hervorragend schildert auch Thomas S. Kuhn den Weg, der zur kopernikanischen Wende führte, in seinem Buch: Die kopernikanische Revolution. Braunschweig 1981.
3Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 26, S. 422.
4Vgl. Wolfgang Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. III/2. Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen. Berlin 1989, S. 131–135.
5Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik III/3. Z0llikon-Zürich 1932, S. 608.
6Emil Brunner: Dogmatik II. Die christliche Lehre von der Schöpfung und Erlösung. Zürich 1972, S. 151.
7Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz. Frankfurt/Main 1969, S. 159.
8Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt. Stuttgart 1969, S. 17.
9Christof Gestrich: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung. Tübingen 1989, S. 184.
10Vgl. Honore de Balzac: Buch der Mystik, zitiert nach Gottfried Hierzenberger: Erkundungen des Jenseits. Wien 1988, S. 167ff.
11Die Bedeutung Swedenborgs für die kantianische Philosophie und damit für das moderne Denken überhaupt wurde zusammengefasst von Wilhelm Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende. Gütersloh 21923.
12Ebd. S. 209.
13Zitiert in Hans-Jürgen Ruppert: Okkultismus. Geisterwelt oder neuer Weltgeist. Wiesbaden 1990, S. 38.
14Vgl. ideaSpektrum 35/2000. Wetzlar 2000, S. 16.
15Hans-Jürgen Ruppert, a.a.O. S. 11.
16A.a.O. S. 47.
17Vgl. a.a.O. S.