Die Konkretion aber ist es, die immer auch vereinzelt; gleich ob privat bzw. familial, lokal, milieuspezifisch oder thematisch. Auf diesen Punkt weist Isolde Karle mit Recht hin.27 Ihr Bestreben allerdings, mit der Feststellung, die Ortsgemeinde sei die integrativste Sozialform von Kirche (Günther Thomas), andere Gemeindeformen auf „Kontaktstellen zur Kirche“ zu reduzieren und die kirchengemeindliche Existenz von „Tourismus- und Akademiegemeinden, Citykirchenarbeit und Jugendkirchen“ mit dem Argument zu bestreiten, diese seien „ausgesprochen pfarrer- und dienstleistungsorientiert“ und zeigten „kein eigenes autonomes Leben“, überzeugt nicht. Zum einen lässt sich derartiges Gemeindeleben aufweisen, zum anderen ist eine solche Pfarrerorientierung auch in den traditionellen Ortsgemeinden zu finden. Dieses Argument ist angesichts der gerade auch von Karle betonten Zentralstellung des Pfarrdienstes für die Gemeindebildung nicht nachvollziehbar. Der Konziliaren Gemeindebildung vor Ort entspricht aufgrund der „kulturellen Segregation“ jeder Gemeinschaft allerdings notwendig die bewusst synodale Kooperation und gesamtkirchliche Vernetzung von Gemeinden am Ort, in der Region und darüber hinaus bis an alle Enden der Erde. Es geht eben um mehr als um die eine Gemeinde.
Ausgehend von Christoph Bäumler wird darum für nach außen offene Gemeinden und ein gleichberechtigtes, synodal vernetztes Miteinander unterschiedlicher Gemeindeformen argumentiert. Kirche und Gemeinde werden in diesem Zusammenhang im Streit der Welt verortet. Dieser ereignet sich nicht der Kirche gegenüber, sondern spiegelt in ihrem Inneren wider, dass die Glieder des Leibes Christi aufgrund ihrer spezifischen Lebensformen, sozialen Funktionen oder Berufen in sehr unterschiedlichen Graden von Nähe und Distanz zueinander in der Welt leben. Die Unterschiede zwischen Einzelnen und Gemeindetypen betreffen nicht allein Fragen der Ästhetik und der Frömmigkeitsstile. Auseinandersetzungen darüber, wie das Leben mit Gott geführt werden soll, sind unvermeidlich. Das Miteinander-Streiten wird im konziliaren Ansatz jedoch nicht als Problem der christlichen Einheit, sondern als Modus der Verbundenheit in der Suche nach Verständigung interpretiert. In der Teilhabe am Streit der Welt liegt der Schlüssel zur Überwindung einer dem Evangelium nicht entsprechenden Selbstbegrenzung der Gemeindearbeit auf mehr oder weniger homogene Binnenräume. In der Teilhabe am Streit der Welt ist die Kirche mit ihren Gemeinden eben „mittendrin“.
So richtig es ist, dass sich die Kirche „missionarisch“ dafür engagiert, dass Bedingungen wirklich werden, unter denen Gottes Geist Glauben wirken kann, so wenig ist die Kommunikation des Evangeliums auf kirchenorganisatorische und existentielle Fragen zu verengen. Mit Reiner Preul wird jene Haltung, wie sie sich beispielsweise in manchen der sogenannten Glaubenskurse niederschlägt, in Zusammenhang mit der Privatisierung von Religiosität gesehen, welche die gesellschaftliche Relevanz der Kirche verstellt. Die Verengung auf die vermeintlichen Kernkompetenzen des kirchlichen Handelns ist als Verzicht auf den Beitrag zur ethischen Orientierung und die gesellschaftliche Diskussion von Sinnfragen problematisch. „Mittendrin“ ist Kirche umso mehr, wenn sie in Kommunikation mit jenen tritt, die außerhalb der Kerngemeinde und ihren Grenzen glauben. Konziliarität wird mit Ernst Lange als die Form bestimmt, in der die verschiedenen Formen des gelebten Glaubens in ihrer Unterschiedlichkeit offen miteinander in Beziehung treten.
Im Kapitel „Kirche mittendrin“ wird konkret ein Beispiel erörtert, in dem sich eine Gemeinde an ihrem Ort für ihren Ort öffnet. Dieses Beispiel ist im Zusammenhang dieses Buches darum weiterführend, weil es einerseits die bewusste Öffnung und das Engagement einer Kirchengemeinde in ihrem Sozialraum veranschaulicht, andererseits aber zeigt, wie auch eine Gemeinwesenorientierung im problematisierten Konzept des Gemeindeaufbaus verfangen bleiben kann. Auch die Anregung zur Konziliaren Gemeindebildung fokussiert die gemeindliche Ebene, bzw. die gemeindlichen Ebenen, ist in ihrer Ausrichtung allerdings eben dezidiert nicht strategisch. In ihrer Absage an strategische Kirchenreform- oder Gemeindeaufbauprojekte wirbt sie für ortsspezifische Gestaltungen und die Vernetzung von Gemeinden, in der Gesellschaft und für die Welt.
Auch im Rahmen der Konziliaren Gemeindebildung kommt dem Pfarrdienst eine zentrale Bedeutung zu. Im Unterschied zur Betonung der Pfarrperson als Führungsgestalt im Missionarischen Gemeindeaufbau bzw. dem Gemeindemanagement wird der Pfarrdienst im folgenden Abschnitt (gemeinde-) pädagogisch als Leitungsaufgabe gefasst, in der es darum geht, mit der konkreten Gemeinde Aufgaben zu erfassen und zu bearbeiten, die sich im globalen Rahmen vor Ort stellen. Es geht um eine Gemeindepraxis ökumenischen Lernens.
So notwendig eine experimentelle Gemeindearbeit ist, die Entwicklung neuer Gemeindeformen und deren synodale Vernetzung, so wenig wird man damit doch den Bestand der Volkskirche sichern können. Vielleicht wird sie sogar aufs Spiel gesetzt.28 Missionstheologisch betrachtet geht es aber auch nicht um die Kirche, sondern um ihren Auftrag. Dem dienen die vielfältigen kirchlichen Angebote und experimentellen Formen, oder sie sind letztlich überflüssig. Die dieses Buch abschließende Reflexion auf die Metapher des Rands als Ausgangspunkt der Mission trägt dazu bei, sich von der Vorstellung zu verabschieden, der Ort der Kirche wäre mitten im Dorf. Ist die Kirche bei ihrer Sache, findet sie sich aus inhaltlichen Gründen am gesellschaftlichen Rand wieder. Kirche ist nicht einfach mitten in der Gesellschaft. Sie muss sich einmischen, vom Rand her.
2 Wachsen ganz im Trend?
Mit der Parole „Wachsen gegen den Trend“ hatte das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ die evangelischen Kirchen nachhaltig aufgerüttelt. Auch in den kritischen Diskussionen, die sich an die Veröffentlichung im Sommer 2006 anschlossen, wurden die lange so erdrückend wirkenden Trends sinkender Mitgliederzahlen und schwindender Finanzkraft durch Demographie, Austritte und die wirtschaftliche Lage im Land allgemein weniger als Gegebenheiten begriffen, auf die man im Rückzug reagieren muss, denn als Herausforderung zu einer Re-Formierung kirchlichen Handelns.29 Ein zentraler Kritikpunkt am Impulspapier „Kirche der Freiheit“ war und ist der weiterhin wirksame ökonomische bzw. ökonomistische Denkansatz. Mag Kirche in organisationeller Hinsicht auch durchaus Züge eines (Non-Profit-)Unternehmens tragen und Kirchenleitung also von ökonomischer Erkenntnis profitieren können,30 so fraglich ist doch, auf quantitatives Wachstum als Problemlösungsstrategie zu setzen und kirchenleitende Entscheidungen nach marketing-strategischen Konzepten auszurichten. Wo kommt die Rede vom Wachstum und seine Überzeugungskraft in der Kirchenreform-Debatte eigentlich her? Wie steht es um die Biblizität der Vorstellung und seine theologische Eignung?
Ausgehend vom genannten Impulspapier „Kirche der Freiheit“, in dem das Bild des Wachsens 70 Mal verwendet wird, hat Thomas Schlag vier Bedeutungsnuancen der Phrase „Wachsen gegen den Trend“ unterschieden, die in der oikodomischen Debatte verwendet werden:31
Der proklamatorischen Verwendung (Wachsen gegen den Trend!) gegenüber merkt Schlag im Blick auf die soziologische Faktenlage in einer geradezu süffisanten Formulierung an, dass „die Hoffnung, dass sich ein gleichsam globales Mitgliederwachstum gegen den demographischen Trend und durch kirchliche Anstrengung erreichen ließe, durchaus trügerisch sein dürfte“ (vgl. 78).
Die abgrenzende Wachstumssemantik (Wir wachsen gegen den Trend) wirft die kritische Frage auf, „wozu und wem die Rede vom Aufbrechen oder Untergehen, Sein oder Nichtsein für die Volkskirche … dienen soll“ (a.a.O.). Und dies nicht nur im Blick auf die Wirkung dieser Rede auf die, „die längst mit erheblichen persönlichen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen für die Kirche aktiv sind“, sondern auch im Blick auf kirchenleitende Entscheidung über synodal in der Regel nicht selbst stimmberechtigt vertretene Einrichtungen und nicht-parochiale Dienste wie Studierendengemeinden, Citykirchenprojekte und Jugendkirchen. Auch an Menschengruppen, die sich in diakonischen Projekte finden, kann hier gedacht werden. Schlag weist zu Recht darauf hin, dass der abgrenzenden Semantik die Tendenz innewohnt, jene Milieus, die nicht in der Kerngemeinde beheimatet sind, als postmodern, egozentrisch oder orientierungslos moralisch abzuwerten (vgl. 79).
Auch das behauptungsstarke Bedeutungsfeld (Wir wachsen gegen den Trend!) erweist