„Gemeinde“ ist – in einer großen Fülle unterschiedlicher Gestalten und abgestuften Formen der Verbindlichkeit – als Konkretion von Kirche unersetzbar. Ja, sehr offen verstanden als Ort der Glaubenskommunikation am Schnittpunkt von Lebenswelt und Institution wird es sogar darum gehen, mehr und andere Gemeindeformen und Identifikationspunkte zu entwickeln, die auch eine „sporadisch gelebte Kirchenmitgliedschaft“ ermöglichen.8 Und mehr noch als das: Es wird darum gehen, die Kirche ihrer Ordnung nach zu verändern. Es geht nicht nur darum, Angebote für bisher nicht erreichte Zielgruppen zu schaffen und diese in die bestehende Ordnung einzufügen, sondern es gilt neue Orte zu bilden, zu vernetzen und synodal gleichberechtigt anzuerkennen,9 wenn Kirche Menschen aus den unterschiedlichen Milieus und mit ihren verschiedenen Lebensstilen und also Themen ansprechen und ihnen Räume bieten will, über Gott und die Welt zu sprechen; also Kirche mit diesen Menschen zu sein. Die Kirche wird so verstärkt „den Charakter eines Netzwerks, in dem es zur Ausbildung einer Vielzahl an eigenen Sozialformen kommen kann“, annehmen müssen.10
Die Notwendigkeit zur Vernetzung und kommunikativen Verbindung ist auf allen Ebenen der Kirche gegeben. Innergemeindlich, synodal und letztlich ökumenisch. Diese Betrachtungsweise relativiert die Ebenen der Kirche je wechselseitig. Die Gemeinde ist größer als ihre Kreise, die Synoden sind mehr als die Summe der Gemeinden. Entsprechendes gilt für die Kirchen in ihren konfessionsökumenischen und weltweiten Beziehungen. Namentlich die Volkskirchen stehen vor der Herausforderung, diese Relativierungen wahrzunehmen und praktisch zu berücksichtigen. Als Nachfolgerinnen der Staatskirche und als „Sozialgestalten alten Typs“ sind die Landeskirchen, verglichen mit den sogenannten freikirchlichen Gemeinden, in besonderer Weise von den sozialen und religionskulturellen Veränderungen der Gesellschaft betroffen. Volkskirche sein bedeutet heute als Gestaltungsaufgabe, Räume für eine plurale, dezidiert subjektorientierte Kirchlichkeit zu eröffnen.11 Das ist eine Voraussetzung für ihre gesellschaftliche Relevanz. Denn „dass der Kirche zugetraut wird, von sich aus etwas Substantielles zu öffentlichen Angelegenheiten beizutragen gründet darin, dass sie lebensweltlich präsent ist und von Fall zu Fall persönlich bedeutsam wird.“12 Die Volkskirche als offene und öffentliche Kirche muss den Lebenswelten und Lebensweisen der Menschen entsprechen und eine Glaubenspraxis fördern, die sie im Vergleich mit anderen Formen Kirche zu sein eben ausmacht: „Wir glauben und gehören zur Kirche; wir sind aber im Blick auf die Inhalte und die Praxis frei, halten Distanz und beteiligen uns bei Gelegenheit“.13
Kirche als „Volkskirche macht deutlich: Das Evangelium gilt auch einem Publikum, das nur kurz hereinschaut“(243). Der oft beschworene vermeintliche Vorteil des Ansatzes bei der Ortsgemeinde, die nah bei den Menschen sei, täuscht darüber hinweg, dass die Menschen immer weniger nur an einem Ort sind, sondern in sozialen Zusammenhängen leben, die verschiedene Räume miteinander verbinden.14 Ortsgemeinden sind Gemeinden an einem Punkt und auf andere kirchliche Orte nicht allein „gelegentlich“ angewiesen. Jochen Cornelius-Bundschuh plädiert mit Recht entschieden für eine „Kommunalisierung des Evangeliums“, weil es insbesondere die mittlere Ebene sei, auf der die sozialen Prozesse vonstattengehen „zwischen Menschen, die in erreichbarer Nähe leben und sich doch fremd sind und durch ihren Lebensstil oder ihre kulturellen Konzepte unterscheiden“ (240). Nach diesem Ansatz kommt nicht allein die Wohnsitzgemeinde in den Blick, sondern alle „öffentlichen Orte und Einrichtungen, in denen Menschen ihren Alltag gestalten“ (248).15
Mit einer solchen Verlagerung von der Ortsgemeinde auf die sogenannte mittlere Ebene wird die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Veränderung der kirchlichen Ordnung deutlich. Denn „wenn Kirche nicht mit der Einzelgemeinde gleichgesetzt wird, sondern eine volkskirchliche Mitgliedschaft zur evangelischen Kirche insgesamt an unterschiedlichen Orten gelebt und realisiert wird, sollte das Konsequenzen für das kirchliche Mitgliedschaftsrecht haben. Möglicherweise brauchen wir gerade in missionarischer Perspektive wieder eine Vielfalt von Gemeindeformen (Citykirchengemeinden, Profilkirchen, Passantengemeinden, …) neben der Parochialgemeinde. Wenn unterschiedliche Gemeinden sich profiliert ergänzen,16 kann das der Außenwahrnehmung von Kirche nur gut tun."17
Der gesellschaftlichen Auffächerung unterschiedlicher Lebensräume kann tatsächlich nicht anders denn durch eine Ausdifferenzierung gemeindlicher Formen und Angebote begegnet werden, die die Eigenständigkeit der einzelnen Gemeinden in dialektischem Sinne aufhebt bzw. in einer synodalen Form vernetzt, die von anderer Qualität ist als die heutigen Synoden, die ein paar gemeinsame, den Gemeinden funktional untergeordnete Dienst- und Pfarrstellen unterhalten. Es besteht m.E. aktuell durchaus die Gefahr, dass durch die Betonung der territorial definierten Gemeindeebene mit ihrer steuerrechtlich begründeten (Finanz-)Hoheit im Gegenüber zu den anderen Ebenen bzw. kirchlichen Kooperationsformen wichtige Reformen unterbleiben, die dazu beitragen könnten, Kirche als Volkskirche weiter zu entwickeln. Vereinzelte Gemeinden oder eine Vielzahl homogener Gemeinden sind dazu nicht in der Lage, weil sie die notwendige Offenheit allein nicht herstellen können.18
gemeindemenschen.de ist die Adresse einer Internetseite zur Unterstützung ehrenamtlichen Engagements für Ehrenamtliche in Kirche und Diakonie. Macht die Adresse die Leitvorstellung von Kirchenmitgliedschaft deutlich? Geraten „Kirchenchristen“ nicht zu sehr aus dem Blick? Als Kirchenchristen bezeichnet Thomas Klie diejenigen, die als „Distanzierte“ in der ihnen eigenen Form der Zugehörigkeit nicht angemessen beschrieben sind; jene, deren „gefühlte Verbundenheit“ sich kirchlich „in einer ephemeren Praxis (verdichtet).“ „Kirchenchristen lösen heute das Spannungsverhältnis aus familiärer Privatheit, religiöser Autonomie und traditioneller Kirchlichkeit konsequent über einen temporär passgenauen Zugriff.“19
Thematisch erlebe ich die kirchliche Konzentration auf „die Gemeinde“ dort als verengt, wo in ihr die gesellschaftlichen und globalen Fragen nicht lokal konkretisiert aufgegriffen, sondern geradezu auf Abstand gehalten werden. Und sei es, dass sich Gemeinden auf die direkte Hilfeleistung z.B. für Geflüchtete konzentrieren, die damit verbundenen sozial-, außen- und entwicklungspolitischen Fragen aber nicht weiter aufgreifen.20 Nun geht es im Glauben aber nicht um die heile Welt, sondern eben um das Heil der Welt.21 Der Gestaltung der Gemeinde im Interesse des „Ensembles der Opfer“22 als entlastenden Gegenpol zur verwirrenden, globalisierten Wirklichkeit ist die Berechtigung nicht abzusprechen. So richtig es darum ist, Gemeinden geistlich als Kraftorte in der Welt zu gestalten, so sehr muss es in den Gemeinden um die Kommunikation des Evangeliums als eine frohe und befreiende, eine andere Wirklichkeit möglich machende Botschaft für die Welt gehen.23 Und so unbedingt wichtig es ist, Gemeinden in einem Umfeld, das zunehmend durch eine „religious illiteracy“ geprägt ist, als Sprachschulen zu gestalten, in denen Glaubenskommunikation geübt werden kann, so wenig darf in den Glaubenskurs genannten Formaten die Welt aus dem Blick geraten oder auch nur auf die Frage nach der Relevanz des Glaubens für die private Lebensführung reduziert werden. Eine auf (Wellness-)Spiritualität verkürzte praxis pietatis jedenfalls widerspricht faktisch der Frömmigkeit in der Nachfolge Christi.
Dem Anliegen einer offenen und öffentlichen Kirche24 verbunden, wollen die hier zusammengestellten Überlegungen einen Beitrag zu Gemeindebildung25 und Kirchenorganisation leisten. Das folgende Kapitel setzt sich dazu kritisch mit der Leitvorstellung des Gemeindewachstums auseinander, die die kirchlichen Reformanstrengungen der letzten Jahre orientierte; eine Leitvorstellung, die weniger trotz als mit der ihr eigenen missionarischen Akzentuierung stark innerkirchlich ausgerichtet ist. Im Kontrast dazu wird Bonhoeffers Bestimmung der Kirche als „für andere“, die zur Programmformel einer diakonischen und – im ökumenischen Horizont des Konziliaren Prozesses – im wohlverstandenen Sinne politischen Ausrichtung kirchlicher Gestaltung geworden ist, einer Prüfung unterzogen. Diese beiden Ansätze werden anschließend in einer missionstheologisch inspirierten Bestimmung der Aufgabe der Kirche kritisch aufgenommen, die die vorliegende Anregung zur Konziliaren Gemeindebildung26 fundiert.
Die Konziliare Gemeindebildung ist dezidiert nicht strategisch konzipiert. Sie gibt der Lebendigkeit des Glaubens der unterschiedlich Glaubenden Raum und kommuniziert die liebevolle Begeisterung durch das Evangelium, dass