Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi. Yasmina Khadra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yasmina Khadra
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711449028
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sollte ich gehen?«, murmelt er verärgert.

      »Zum Feind. Viele meiner Minister haben sich schon freiwillig gestellt. Mussa Kussa, den ich an die Spitze des Außenministeriums gehievt habe, hat die Engländer um politisches Asyl gebeten. Und Abdel Rahman Shalgham, mein Aushängeschild, ist zu meinem eingeschworenen Verräter geworden: Emissär bei der UNO, mandatiert von den Verrätern und Söldnern ...«2

      »Ich habe diesen Typen schon immer misstraut. Das waren immer nur Profiteure, die die eigene Mutter gegen jedes noch so winzige Privileg eingetauscht hätten. Ich aber liebe Sie mit jeder Faser meines Wesens. Ich werde Sie niemals im Stich lassen.«

      »Und warum lässt du mich dann allein oben im ersten Stock?«

      »Sie waren ins Gebet vertieft. Ich wollte Sie nicht stören.«

      Ich hege keinerlei Misstrauen gegenüber Abu Bakr. Nichts kommt seiner Loyalität zu mir gleich, allenfalls sein Aberglauben. Ich weiß, dass er früher regelmäßig Kartenleserinnen befragte, um sicherzugehen, dass mein Vertrauen zu ihm noch intakt war.

      Ich habe ihn aus reiner Verärgerung so angefahren.

      Es hat mir nicht gefallen, dass er in meiner Gegenwart einfach sitzen blieb.

      Normalerweise schlug er schon die Hacken zusammen, wenn er nur meine Stimme am Telefon erkannte, und brach in Angstschweiß aus, wenn ich ihm den Hörer hinknallte.

      Dieser verfluchte Krieg! Er wirft nicht nur alle guten Sitten über den Haufen, er lässt sie mitunter belanglos erscheinen. Wenn ich beschlossen habe, über die schlechten Manieren des Generals hinwegzusehen, dann nur, weil ich in diesen Zeiten massiver Fahnenflucht einfach jemanden brauche, der mir sagt, dass er mich niemals im Stich lassen wird.

      »Was ist das für ein blauer Fleck, den du da auf der Backe hast?«

      »Keine Ahnung. Kann sein, dass ich mich an einer Wand gestoßen habe oder am Bettgestell. Ich erinnere mich nicht.«

      »Zeig mal her.«

      Er hält mir die ramponierte Seite seines Gesichtes hin.

      »Das sieht nach etwas Ernstem aus. Du solltest einen Arzt zu Rate ziehen.«

      »Nicht nötig«, erwidert er, während er sich die Wange massiert. »Außerdem tut es nicht weh.«

      »Hast du Nachricht von Mutassim?«

      Er schüttelt den Kopf.

      »Wo steckt Mansur?«

      »Ruht sich im Hinterzimmer aus.«

      Ich gebe einem Soldaten Zeichen, den Kommandanten meiner Volksgarde zu holen.

      Mansur Dao kommt in einem jämmerlichen Zustand zur Tür hereingewankt, in schludriger Kleidung, mit wildem Bartwuchs und struppigem Haar. Er hält sich nur mit Mühe aufrecht, grinst mir vage zu und sucht sogleich wieder Halt an der nächsten Wand. Er hat seit Tagen und Nächten kein Auge zugetan. Sein leerer Blick ist abgrundtief finster.

      »Hast du geschlafen?«

      »Wenn ich wenigstens mal für zwei Minuten einnicken könnte, Rais.«

      »Weil du glaubst, dass du wach bist?«

      Er bemüht sich um ein Mindestmaß an Haltung, vergeblich.

      Sein Hemd ist nur noch ein Lappen; seine Hose, viel zu groß für ihn, schlottert ihm um die Beine. Mir fällt auf, dass er seinen Gürtel um etliche Löcher enger geschnallt hat.

      Ich packe ihn bei den Schultern, warte, dass er den Kopf hebt, sehe ihm in die Augen.

      »Lass dich nicht gehen, Mansur«, ermahne ich ihn. »Wir schaffen das, wir kommen hier heil heraus, das verspreche ich dir.«

      Er nickt.

      »Was war das für eine Bombe vorhin?«

      Er zuckt die Achseln. Am liebsten würde ich ihm eine schallende Ohrfeige versetzen.

      Abu Bakr blickt zu uns herüber. Er hat begriffen, dass die Haltung des Kommandanten der Volksgarde mir ebenso unerträglich ist wie das Geschützfeuer, das aus der Ferne herüberhallt.

      »Gibt es Neues von Mutassim?«

      Mansur schüttelt den Kopf, das Rückgrat bis zum Anschlag durchgedrückt.

      »Und von Saif?«

      »Er zieht seine Truppen im Süden zusammen«, erwidert an seiner Stelle der General. »Vermutlich bei Sebha. Nach unseren Informationen wird er in Kürze eine breite Gegenoffensive starten.«

      Mein tapferer Sohn Saif al-Islam! Wäre er an meiner Seite, er hätte mich längst für all die bedrückten Mienen um mich herum entschädigt. Er hat mein Durchhaltevermögen und mein Draufgängertum geerbt und die unverbrüchliche Treue zum einmal geleisteten Eid. Um ihn mache ich mir offen gestanden die wenigsten Sorgen. Er ist gewitzt und ohne Furcht, und wenn er etwas verspricht, dann hält er Wort, das ist Ehrensache für ihn. Er hat mir versprochen, meine durch die Luftangriffe der NATO zersprengte Armee neu zu organisieren und dem hunnenhaften Vorwärtspreschen der Rebellen einen entscheidenden Gegenstoß zu verpassen. Saif hat Charisma. Er ist ein großer Menschenführer. Aus denen, die sich verkauft haben, würde er im Handumdrehen Hackfleisch machen.

      Ein Leutnant erscheint zum Rapport. Sein Aufzug lässt zu wünschen übrig, aber sein Eifer ist intakt. Er wendet sich an den Verteidigungsminister:

      »Unsere Späher melden, dass sich die feindlichen Infanteristen und Spähtrupps auf dem Rückzug befinden, Herr General.«

      »Sie sind nicht auf dem Rückzug«, widerspricht Mansur genervt. »Sie bringen sich in Sicherheit.«

      »Wie meinst du das?«, frage ich.

      »Sie haben heute Nachmittag begonnen, ihre Vorposten zu räumen. Um uns zu isolieren. Ich denke, dass wir bald mit einem massiven Bombardement rechnen müssen.«

      Ich verlange nähere Erklärungen.

      Mansur bittet den Leutnant, sich zurückzuziehen, und wartet, bis wir drei wieder allein im Raum sind, bevor er uns anvertraut:

      »Mein Funker hat verschlüsselte Nachrichten aufgefangen. Alles deutet darauf hin, dass die alliierte Luftwaffe den 2. Distrikt unter Beschuss nimmt. Der hastige Rückzug dieser Rebellenhunde bestätigt diese Möglichkeit.«

      »Wo ist Mutassim?«

      »Aufgebrochen, um Fahrzeuge zu requirieren«, erklärt Abu Bakr, während er sich erhebt. »Wir können uns nicht länger hier verschanzen und auf einen Knalleffekt warten, der uns befreit. Wir haben zu wenig Lebensmittel, zu wenig Munition und nicht genug Handlungsspielraum. Unsere Einheiten sind aufgerieben. Sirte ist quasi umzingelt und der Ring um die Stadt zieht sich von Stunde zu Stunde enger zusammen.«

      »Ich dachte, Mutassim sei damit beschäftigt, seine Garnisonen zu verstärken. Was soll dieser plötzliche Sinneswandel?«

      »Es war doch Ihre Idee, die Belagerung zu durchbrechen.«

      »Nanu, habe ich plötzlich Gedächtnislücken?«

      Bestürzt ob meiner Vergesslichkeit runzelt der General die Stirn, dann wird er deutlicher:

      »Es wird keine Verstärkung geben, Rais.«

      »Und warum nicht?«

      »Saif al-Islam ist zu weit im Süden. Wir müssen so schnell wie möglich aus Sirte raus. Nur so haben wir eine Chance, nach Sebha durchzukommen, das von den Aufständischen komplett geräumt wurde, um uns neu zu organisieren und mit Saifs Unterstützung Misrata einzuschließen. Die Stämme im Süden sind uns treu geblieben. Sie werden die Logistik übernehmen.«

      »Seit wann hast du deine Pläne geändert, General?«

      »Seit heute Morgen.«

      »Ohne dass ich davon erfahre?«

      Der General reißt die Augen auf, wiederum verblüfft ob meiner Frage:

      »Aber, Rais,