Wieder keine Antwort.
„Ich soll mich totschiessen — meinen Sie? ... He?“
Schweigen.
Der Wendisch-Wiescher rang die Hände. Er flehte beinahe. Die Stimme überschlug sich ihm.
„Exzellenz ... Sie sind doch hier im Kreis sozusagen unser mahnendes Gewissen ... unser Vorkämpfer ... unser Vorbild ... Alles schaut mit Verehrung zu Ihnen auf ... Sie haben die höchsten Würden erreicht ... Sie kennen das Leben wie keiner ... Herrgott ... Sie sind doch ein Christ ...“
Das wirkte. Exzellenz von Bornim hob das Haupt.
„Ich bin ein alter Mann!“ sagte er. „Und das Leben hat mich gelehrt, dass man alle Leute retten kann, nur die Spieler nicht! ... Sie sind ein Spieler. Waren’s immer. Mein zweiter, der Lüdecke, der Kavallerist, jeut auch und wird einmal daran um die Ecke gehen. Das weiss ich jetzt schon ... Und was Sie betrifft: Sie wären in einem Jahr wieder gerade so weit wie jetzt, Herr von der Zültz, und das Geld wäre ins Wasser geworfen.“
„Und da soll ich nun so einfach, mir nichts, dir nichts, verloren sein — was? Keiner streckt die Hand aus, um mir zu helfen?“
„Seien Sie nicht ungerecht!“ sprach der alte Herr ernst. „Sie wissen genau: Es hat Ihnen jeder hier schon einmal geholfen. Ich selbst schon dreimal. Und es war immer umsonst. Und diesmal ist die Geschichte einfach schmuddelig ...“
Das Feuer in seinen blauen Augen verstärkte sich. Er stand auf und stampfte mit dem Fuss.
„Eine verfluchte Schmuddelei ist es, Herr von der Zültz! Das mit dem Holzverkauf. Das wollen wir doch einmal offen aussprechen. Da geh’ ich nicht mit. Das können Sie nicht verlangen. Es tut mir weh genug, dass so was möglich ist! Was soll ich denn im Reichstag sagen, wenn man mir solche faulen Sachen meiner Standesgenossen unter die Nase hält? ... Das Maul muss ich halten, wie ein dummer Junge! Ich schufte für uns alle, und Sie machen mir hier meine Arbeit zunichte! ... Wenn wir die Ersten im Lande Preussen sein wollen, Herr von der Zültz, dann müssen wir ’ne weisse Weste anhaben, so weiss, wie sie gerade von der Plättfrau kommt! Auch nicht ein Stäubchen drauf! ... Nee ... Nee ... da hab’ ich kein Mitleid mehr ... nee ... nee ... tut mir leid ...“
Der alte Herr ging ein paarmal stürmisch durch das Zimmer. Dann blieb er stehen.
„Wenn Ihnen mit dem Geld nach Amerika gedient ist, das können Sie haben! Auf der Stelle!“
„Herr von Bornim ...“
„Sie brauchen gar nicht aufzubrausen! Was faul ist, fällt vom Stamm. Mehr kann ich nicht tun. Soll ich das Geld holen?“
Kaspar von der Zültz fing an, nervös zu schluchzen. Er überragte die kleine Exzellenz vor ihm um zwei Haupteslängen. Aber er stand vor ihm wie vor einem Richter. Der alte Bornim sah ihn mit unverhohlenem Widerwillen an. Ein weinender Mann ... Pfui ... Plötzlich stiess der andere einen unartikulierten Ton aus, stürzte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, lief durch den Flur, sprang in den Wagen ... Wilke von Bornim sah im Dunkel des Hofs die beiden Laternen sich bewegen, die Pferde anziehen ... Wer lehnte denn da noch neben dem Unglücksmenschen auf dem Rücksitz? ... Ein halbwüchsiges Mädchen, den Kopf schlaftrunken vornübergesunken, friedlich schlummernd ... Ach so ... die kleine Ilse ... seine Tochter ...
Das Antlitz des alten von Bornim wurde noch ernster. Er ging hinüber in seinen grossen Arbeitsraum. Dort sah es nicht so aus wie sonst bei den Landjunkern. Wohl fehlten auch hier die Schriftstücke der Gutsverwaltung nicht, Holz- und Korn- und Lohntabellen, Abrechnungen mit der Dampfmolkerei, Spiritus- und Steuerkorrespondenzen, Briefe an das Kirchenpatronat und den selbständigen Gutsbezirk Sommerwerk, aber sie verschwanden neben den Aktenstössen, die den mächtigen Schreibtisch, die Stühle, den Fussboden bedeckten, die Regale an den Wänden füllten: die Drucksachen des Reichstags und des Herrenhauses, die Verhandlungen des Provinziallandtags und des Kreisausschusses, der General- und der Provinzialsynode, des Kriegervereins und des Johanniterordens, des patriotischen Wahlvereins und der Brandschätzungskommission, Schreiben von Parteifreunden aus nah und fern, Zeitungsnummern mit blau angestrichenen politischen Artikeln, Zuschriften aus den Ministerien ... Aus diesem niederen, von Tabakrauch durchzogenen, mit Rehgehörnen geschmückten Raum, von diesem unscheinbaren kleinen Herrn, der in ihm sass, strömte ein zäher, unbändiger Wille zur Macht hinaus über das Land, über Preussen und das Reich.
Über dem Schreibtisch hing ein Kruzifix. Auf das richtete der alte Bornim die Augen. Er sann. War das nicht eine Unterlassungssünde? Der, den er eben in die Nacht und in sein Schicksal hinausgesandt, der besass eine kranke Frau, ein unmündiges Kind. Die durften nicht für ihn leiden. Denen musste man beispringen. Das war Christenpflicht.
Diese Sorge begleitete ihn zum Abendessen, das er allein mit seiner Frau einnahm. Die drei Töchter waren für den Abend zu den Zotzens nach Rhinow geladen, wo sich durch einen merkwürdigen Zufall auch der Neffe dieses Hauses, der Husarenleutnant von Sillein, seit Wochen aufhielt. Die beiden alten Leute, die in einer lächerlich glücklichen Ehe lebten, sassen bei Tee und kalter Küche und taten, was sie zum Zeitvertreib immer bei der Lampe taten — sie stritten sich über Gott und die Welt, diesmal über das Datum ihrer Ankunft in Innsbruck auf ihrer Hochzeitsreise vor dreissig Jahren, bis Herr von Bornim scheinbar böse wurde und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug: „Hoho ... Malwinchen! Da muss ich aber doch sehr bitten ...“
Und ebenso entrüstet sie, die rundliche Exzellenz: „Wilkchen ... du bist manchmal wirklich komisch ...“
Gleich darauf taten sie, als sei gar nichts geschehen, und Philipp, der greise Diener hinten am Büfett, verzog keine Miene. Er kannte das seit einem Vierteljahrhundert. Als er hinausgegangen, schob Wilke von Bornim seinen Teller zurück und sagte plötzlich: „Weisst du, Malwinchen: ich hab’ wirklich allen Grund, unserm Herrgott dankbar zu sein. Er hat mich gnädig geführt!“
„Du verdienst es auch, Wilkchen!“
„Die Eitelkeit der Welt mein’ ich nicht! Ob ich abends meine Orden wegschliess’, oder meine Hosenträger abknöpf’, das ist mir egal. Aber, dass ich dich bekommen und behalten hab’ und die Meinen und mein Haus und Dach ... Ich weiss einen, Mallichen, der muss morgen von Haus und Hof, und seine Frau ist unheilbar krank, und was aus seinem Kind wird, weiss keiner ...“
„Hilf ihm, Wilkchen!“
„Nicht wahr, Mutter?“ sagte der alte Herr. „Ich muss doch!“
Er fand diese Nacht keinen Schlaf. In ihm klang das Wort der Schrift: ‚Was du tust, das tue bald!‘ ... Was konnte jetzt, zwischen Eulenruf und Hahnenschrei, alles drüben in Wendisch-Wiesche passieren? Ein Mensch wie der Zültz, der gleich toll aufflackerte wie ’ne Strohmiete im Blitzschlag! ... der unsinnige Abenteurer! ... Exzellenz von Bornim stand auf. Ging unruhig auf und nieder. Um halb vier Uhr morgens weckte er selbst den Kutscher und liess anspannen.
Es war noch dunkel draussen, als er nach Wendisch-Wiesche fuhr. Morgenkühle. Totenstille. Kaum hörbar das Janken der Bauernköter in der Ferne. Sanftes Unkenklagen und breites Fröscheknarren aus dem Bruch. Dann erhellte sich allmählich die Welt. Weisse Schwaden wallten über der Erde, hingen im Parkgeäst von Wendisch-Wiesche. In tiefem Schlaf, mit geschlossenen Fensterläden lag unter ihnen, undeutlich in dem zähen fliessenden Grau, das Herrenhaus.
Wilke von Bornim stieg aus und klingelte. Klingelte wieder. Lange und durchdringend. Ein schlaftrunkener Diener schlürfte endlich auf Pantoffeln durch den Flur, machte das Haustor auf, erkannte die Exzellenz, liess ihn erstaunt, mit tiefem Bückling, eintreten. Im selben Augenblick öffnete sich im Oberstock ein Fenster und wurde sofort wieder klirrend zugeworfen ... kurze Stille ... dann, deutlich vernehmbar, ein Schlag ... oder Fall ... oder Schuss ...
Und zugleich fuhr es dem alten Bornim durch den Kopf: ‚Um Himmels willen ... er hat den Wagen gesehen ... das Läuten gehört ... er hat geglaubt, das Gericht kommt, ihn zu holen‘ ... Er stürzte hinter dem Diener die Treppe hinauf. Oben roch er in der Luft, ganz leise, ganz fein, einen Pulverdampf, wie bei der Jagd ... Die Türe zum Schlafzimmer war unverriegelt ... sie flog auf ...
Da