Stark wie die Mark. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507179
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Er hält sie ganz weit von sich. Er ist weitsichtig geworden. Er schaut nur noch in die Ferne: Zum Beispiel ... nein ... jetzt sei mal still und lass mich reden ... da ist Papa in der Budgetkommission vom Reichstag! Unter zweihundert Millionen Mark fangen die da gar nicht erst an. Und im Herrenhaus hat Papa vorigen Monat den preussischen Etat bewilligt. Das war, glaub’ ich, gleich ’ne Milliarde. So Zahlen freuen Papa! In denen lebt er. Was unterdessen hier aus Sommerwerk wird ...“

      „Quatsch!“ sagte der Fähnrich.

      „Und wenn er sich auch darum kümmern wollte, er hat ja nie Zeit! Und hat ja auch nie Landwirtschaft getrieben. Er war doch immer im Staatsdienst, sein Leben lang. Von euch wird ja auch keiner Landwirt. Manchmal kommt es mir vor, als wärt ihr alle hier blind und ich allein hätte die Augen auf ...“

      Das Fräulein von Bornim brach ab. Ihr Bruder zog ein unmutiges Gesicht: das fehlte einem noch gerade, wenn man mal aus der Potsdamer Tretmühle heim zu Muttern kam, dann dies Ge-Unke und Geklöne.

      „Ach, lass mich mit dem Zeug in Ruhe!“ sagte er. „Wo willst du hin? In die Räucherkammer, nach den Schinken sehen? Ja, tu das nur! Adieu!“

      Er war aber doch recht nachdenklich, als er allein in die Vorderräume von Sommerwerk trat. Er tat, was er sonst nie tat: Er setzte sich auf einen Stuhl und schaute müssig vor sich hin. Es war niemand im Zimmer. Von nebenan hörte er die Stimme des Pfarrers Schörlin, der nach alter Gewohnheit, als früherer Hauslehrer der Söhne, am Sonntagvormittag im Herrenhaus vorsprach und der tauben Tante Brigitte seine Neuigkeiten in ihr Hörrohr trompetete.

      „Die Cholera in Marseille wächst!“ schrie er, und die alte Dame, starkstimmig wie die meisten Schwerhörigen, schrie noch lauter: „Gottes Strafe! Gottes Strafe!“

      „Das kommt davon, wenn man Bussgebet durch Petroleum und Karbolsäure ersetzt!“

      „Hei und der Affenkultus! ... Menschen, die den neuen Schimpansen im Zoologischen Garten anbeten! ...“

      „Bismarck hat sich dieser Tage dort auch die Raubtiere angesehen und ist dann weitergeritten!“

      „Er ist selber ein Raubtier!“ schrie die alte Dame. Sie stand für ihre Person mit dem Reichskanzler auf gespanntem Fuss. Schon seit der Deklarantenzeit. Dann wurde es stiller. Die beiden, der Landpfarrer und das alte Fräulein, vertieften sich in einen Bericht über die lutherische Pastoralkonferenz in Köslin und das evangelische Diakonissenhaus in Kairo. Die kleine Ilse kam zu Achim herein. Sie prustete vor Lachen.

      „Du ...“ — sie und der Nachbarssohn nannten sich seit Kinderbeinen ‚Du‘ — „der Lüdecke hat jetzt ein Rennpferd — das heisst Mäuschen, vom Flohtanz aus der Maus! Zu affig — nicht?“

      „Tu mir den einzigen Gefallen und lass mich jetzt in Ruh’!“

      Der Fähnrich ärgerte sich über den kichernden Backfisch. Er hatte jetzt Ernsteres im Kopf. Ilse von der Zültz meinte schnippisch: „Gott ... hab’ dich doch nicht so ... Du hast’s überhaupt nötig. Wo sie dich eben auf acht Tage eingesperrt haben! ... Ich hab’s schon gehört ...“

      „Wie wär’ es denn, Ilse, wenn du jetzt wieder an deine Rechenaufgaben gingst?“

      Der künftige Leutnant sagte das in dem freundlichen Ton eines Erwachsenen gegenüber einem Kind. Die dunkelhaarige, schwarzäugige Kleine stand eine Sekunde da, überlegte eine patzige Antwort, sagte dann, nur verächtlich die Achseln zuckend: „Pah!“ und lief, von einem neuen Gedanken erfasst, aus dem Zimmer und in langen Sprüngen, dass ihr die Zöpfe flatterten und die weissen Röckchen um die dünnen Beine flogen, über den Rasen hinüber zu Eva-Marie, die sie vom Fenster aus beim Verfüttern von gehackten Brennesseln und Eigelb an die jungen Puten gesehen. Ganz erhitzt und zerzaust kam sie später zu Tisch und hob da bittend ihren Suppenlöffel: „Lüdecke ... Erzähl doch wieder was Komisches!“

      „Bin ich der urkomische Bendix?“ frug der Kavallerist entrüstet. Aber er fing sofort an, seinen Regimentskommandeur bei der Kirchenparade nachzumachen — wie die alte knackstiebelige Durchlaucht da widerwillig zu Fuss vorbeiwankte, geistesabwesende Fischaugen unter dem Monokel, unergründliche Verachtung um den halb offenen Mund — Ilse von der Zültz schrie vor Entzücken und trommelte mit ihren roten, mageren Kinderfäusten auf den Tisch, am Büfett hinten kicherte der alte, zahnlose Philipp still in sich hinein, auch die andern lachten. Exzellenz von Bornim aber sagte, als der Diener draussen war, verdriesslich: „Du bist und bleibst ein Kasinofatzke — weiter nichts!“

      Lüdecke schwieg mit süffisantem Lächeln. Das machte den alten Herrn noch zorniger: „Wann schneidest du dir denn endlich die verdammten Bartkoteletten ab? Du siehst aus wie ein Hotelier!“

      „Nur im schlichten Gewand des Bürgers!“ widersprach Lüdecke und lächelte, die Hände gleich einem Gastwirt ineinanderreibend, die kleine Ilse über den Tisch hinüber verbindlich an, dass sie von neuem losplatzte. Die anderen mit. Auch Achim. Und doch, sonderbar: Eine gewisse Nachdenklichkeit wollte nicht von ihm weichen. Diese dumme Eva-Marie! ... Nach Tisch bummelte er mit blossem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, eine Zigarette im Mund, allein hinüber in den Hof. Vor der mächtigen Düngerstätte, auf der heute, im Sonntagsfrieden, nur die Hühner scharrten und die Spatzen die Haferkörner aus den Rossäpfeln pickten, stand breitbeinig, im guten Rock, die feiertägliche Festrübe rauchend, froh, sich einmal nicht mit den Vögten ärgern zu müssen, der Inspektor Dönges. Der Fähnrich ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Sie sprachen vom Wetter, von der Ernte. Der lederbraune Landwirt meinte: „Ja — wenn der Roggen man gut körnt ... Wir könnten ’ne anständige Ernte brauchen!“

      „Na ... ihr habt doch in Kunstdünger gewütet, sagt meine Schwester!“

      „Dat haben wir! Aber wer kommt heute nachmittag? Der Herr Aust!“

      „Der Getreidefritze?“

      „Ja. Sehen Sie, Herr Achim ... dat is ja die Zwickmühle: Dünger brauchen wir für die Ernte. Aber um den Dünger zu zahlen, müssen wir Vorschuss auf die Ernte nehmen. So geht dat nun Jahr um Jahr ... Schliesslich schuftet man nischt mehr ’raus als die Hypothekenzinsen.“

      Auf Achim von Bornims sorglosem Fähnrichsgesicht lag wieder ein Schatten: „Sagen Sie mal, Dönges: woher kommt denn das nun?“

      „Ja Gott, Herr Achim ... die Zeiten werden anders! Es geht nicht mehr so wie früher! ... Wie ich ein junger Scholar war, da war’s noch einfach: Dreifelderwirtschaft und Brache und Punktum. Streusand drauf! ... Heutzutage, wo sie aus Russland und Argentinien und Amerika einem mit dem Getreide über den Hals kommen ...“

      „Und dann, Herr Achim“ — der Inspektor warf seine Zigarre weg und zertrat vorsichtig den glimmenden Stummel — „wo wollten früher die Leute im Dorf hin? Die waren froh, wenn sie’s Leben hatten. Da hat zu meiner Elevenzeit noch der Grossvater mit dem Enkel zusammen bei der Herrschaft Kartoffeln gebuddelt. Aber jetzt: Wozu hat der Mensch die Eisenbahn? Immer man ’rin nach Berlin! Berlin ist gross! Da bleiben sie! Und wir können uns hier mit den Sachsengängern herumhauen. Ein Geld kosten die Brüder! Um das ’rauszuschlagen, muss man höllisch auf dem Posten sein ... Ich bin man bloss ein Angestellter! Exzellenz haben nie die Zeit. Und die jungen Herren haben ja alle einen anderen Beruf. Leben wo anders ...“

      Immer derselbe Kehrreim! Wie bei der Eva-Marie. Das Gut war ein geduldiger Packesel, dem man immer mehr und mehr aufhalste, ohne sich sonst um ihn zu kümmern. Der Himmel blieb den ganzen Nachmittag wolkenlos blau. Trotzdem wurde der Fähnrich von Bornim das Gefühl nicht los, als hinge ein Schatten über Sommerwerk. Schliesslich: Was ging es ihn an? Er war der Jüngste. Er wollte einmal nichts von diesem Boden. Weder Rechte, noch Lasten. Blieb sein Leben lang Offizier, auf den Zuschuss des ältesten Bruders angewiesen, der sehen mochte, wie er hier zustande kam. Ihn, Achim, den Letzten, bissen ja doch die Hunde ... Jetzt auch wieder: Am Abend traten, während der Vater mit dem vorgefahrenen Landrat endlos und ernst über die Reichstagswahlen im Herbst konferierte, die beiden älteren Brüder in Jagdausrüstung vor das Haus. Zwei gute Böcke waren für sie ausgemacht. Für den Fähnrich von Bornim war wieder einmal keiner da. Oder vielmehr, der Förster Jahn, der verfluchte Knasterkasten, geizte mit seiner Wildkammer. Drei Böcke an