Wir lachten beide. Gekränktheit war ein chronischer Zustand bei des Professors betagter Haushälterin. Gott sei Dank machte er sich nichts daraus. Er nannte sie eine Prinzessin auf der Erbse, ein wahrhaft grotesker Name für die fünfzigjährige Veronika, die aussah wie ein braver Ackergaul.
»Übrigens traf ich vorhin den Major«, plauderte der Professor angeregt weiter, »er barst vor Neuigkeiten. Seit gestern ist die Gattin eines Walfischfängers bei ihm zu Gast.«
»Wer ist bei ihm zu Gast?«
»Eine Dame, deren Gatte als Funkoffizier bei einer Walfangflotte den Winter in der Arktis verbringt. Bevor er in See stach hat er seine Frau den Verwandten in die Arme gelegt, damit sie nicht so lange allein sei. Dem Major zufolge soll sie eine ›charmante Person‹ sein.«
Der Professor ahmte vortrefflich Herrn Quantes militärisch knappen Tonfall nach.
Also so verhielt sich das! »Und Pompe funèbre wußte schon von einer geschiedenen Frau zu berichten!«
Nein, von Scheidung war nicht die Rede gewesen. Im Gegenteil! Der Walfischfänger schien eher zu befürchten, daß die »charmante Person« während der langen Strohwitwenzeit auf Abwege geraten könnte. Im übrigen war der Major entzückt von seinem Gast. Er hatte dem Professor einen aufschlußreichen Vortrag über Walfische, Fangboote und Harpunen gehalten.
»Und was sagt Frau Quante?«
»Sie wird einen Tee veranstalten, um uns die Walfischfängersgattin vorzuführen.«
Ich mußte lachen. Es war Frau Quantes Leidenschaft, etwas zu veranstalten: Tees, Bridgepartien oder zwanglose Zusammenkünfte nach dem Abendessen, bei denen sie, jeder Zoll Regimentsdame, auf dem Sofa thronte.
Vom Kirchturm in Riedling kamen verwehte Glockenklänge.
»Um Himmels willen, zwölf Uhr!« Der Professor förderte von irgendwoher einen zerbeulten Hut zutage und drückte ihn auf seinen Vogelkopf. »Ich muß mich beeilen. Die Prinzessin auf der Erbse würde es nicht überleben, wenn ich zu spät zum Essen käme! Auf Wiedersehen, teure Freundin!«
»Auf Wiedersehen, Professor! Besuchen Sie uns bald!«
»Grüßen Sie Stefan und die Kinder.« Seinen grotesken Hut schwingend, verschwand er flatternd um die Wegbiegung, während ich, durch Löcher und Spurrinnen stapfend, die Benediktenwandstraße erklomm. Als ich das Gatter zum Vorgarten öffnete, begann es zu regnen. Die Hühner kauerten aufgeplustert und unansehnlich im Schutze der Hauswand. Orpheus hatte stark an Wohlgestalt verloren; sein Kamm hing wie eine Jakobinermütze herab. Grämlich hockte er inmitten seines Harems und gönnte nicht einmal der bunten Eurydike die kleinste Aufmerksamkeit.
CORINNA
Zum Wochenende kam Corinna heraus. Wenn man sie des Weges daherkommen sah in ihrem ewigen Kamelhaarmantel, die unvermeidliche Baskenmütze auf dem linken Ohr, mit weit ausgreifenden Schritten, selbstbewußt und energiegeladen, war es unmöglich, sich vorzustellen, daß sie in ihrer ersten Lebenszeit ein Flämmchen nahe am Erlöschen gewesen war. Unsere Freunde hatten uns seinerzeit gestanden, daß sie keinen roten Heller für das Leben der kleinen Corinna gegeben hätten. Wir selber waren von angstvollen Zweifeln ergriffen worden beim Anblick des erbärmlichen kleinen Dings, das die Nahrung verweigerte und niemals schrie, und manchmal hatte ich mich gefragt, ob dies vielleicht die gerechte Strafe für unsere Überheblichkeit sei, die ein so winziges Geschöpf mit einem so gewichtigen Namen belastet hatte.
Damals hatten wir gemeinsam nach dem Ungewöhnlichen getrachtet. Es bestand für uns kein Zweifel darüber, daß unser erstes Kind, gleichviel ob Bub oder Mädchen, ein Wunder seiner Art werden würde; natürlich mußte ein Name gefunden werden, der des Wunders würdig war. Wir legten Listen an. Auf der Bubenliste stand, einmütig genehmigt, der Name Michael. Auf der Mädchenliste stritten Bettina, Agathe und Cordelia um den Vorrang, mit der Zeit kamen Julia und Violetta hinzu. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual. Der Reichtum unserer Phantasie wirkte sich lähmend auf unsere Entschlußkraft aus. Bis eines Abends – es war ein Monat, bevor das Kind zur Welt kommen sollte – Stefan sich im Bett aufrichtete und feierlich verkündete, jetzt habe er es. Wenn unser Kind eine Tochter werde, müsse sie Corinna heißen.
Corinna! Ich war entzückt. Es klang nach römischer Kaiserzeit. Wie um alles in der Welt war Stefan darauf gekommen?
Stefan legte sich befriedigt zurück. Ich erfuhr, daß Corinna die geniale und leidenschaftliche Heldin eines Romans gewesen war, der ihn als Siebzehnjährigen begeistert hatte. Genial und leidenschaftlich! Konnte man sich eine bessere Mischung vorstellen? Aber als ich das Neugeborene zum erstenmal im Arm hielt, wurde ich von heftigen Zweifeln beschlichen, ob dieses krebsrote, zappelnde Wesen jemals der romantischen Idealgestalt gleichen würde, deren Bild Stefan im Busen trug. Er beruhigte mich mit dem Hinweis darauf, daß auch Julius Cäsar und Napoleon einmal krebsrote Babys gewesen waren. Das leuchtete mir ein, obwohl es mich einige Mühe kostete, mir die Helden der Weltgeschichte in Windeln vorzustellen.
Dem allgemeinen Pessimismus in bezug auf ihre Lebensfähigkeit zum Trotz wuchs Corinna heran. Schon mit zwei Jahren war sie eine kleine Persönlichkeit. Ihr erstes Wort war »allein.« Ein Grundzug ihres Charakters tat sich darin kund: ihr unbändiger Drang nach Selbständigkeit. Sie wußte haargenau, was sie wollte, sie war zielstrebig und mit Energie geladen, ihre kleinen Füße wurzelten fest in der Wirklichkeit. Sie war leicht zu erziehen und schwer zu fassen, denn sie hatte ein stolzes Herz, das sich ungern erschloß. Hinter ihrer runden Stirn wohnten nur klare Gedanken, sie besaß nicht den geringsten Sinn für Romantik und hatte ein verächtliches Zucken der Mundwinkel für das, was sie als Kitsch bezeichnete. Und das war das meiste von dem, was junge Mädchen ihres Alters lieben. Corinna empfand nichts beim Anblick einer vollmondüberglänzten Landschaft, sie schwärmte weder für Filmstars noch für sonst irgend etwas. Wenn sie einen Menschen oder eine Sache lobte, geschah es mit objektiver Sachlichkeit. Sie war herb, äußerlich und innerlich, und doch war ihr eigenwilliger Kopf so liebenswert mit dem kurz geschnittenen Haar, mit den stahlgrauen Augen und der kleinen geraden Nase über dem trotzigen Mund. Manchmal hatte ich Lust, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, daß sie doch noch ein dummes kleines Mädchen sei. Aber ich hütete mich wohl, es zu tun; sie hätte es mir schwerlich verziehen!
Corinna war Stefans Stolz. Er bewunderte alles an ihr, angefangen bei ihrem selbstbewußten Draufgängertum, das seinem Wesen im Grunde so fremd war, bis zu dem mit großer Festigkeit geäußerten Entschluß, Medizin zu studieren. Sie ihrerseits nannte ihn einen »verdammt feinen Kerl«. Es war das höchste Lob, das sie zu vergeben hatte. Wenn sie sich unbeobachtet glaubte, konnte es geschehen, daß sie in einer jähen Aufwallung von Zärtlichkeit den Kopf an seiner Schulter rieb. Sie durfte ihn beim Vornamen nennen, vielmehr, sie sagte »Steff«, mit jener Vorliebe für burschikose Abkürzungen, die ein Merkmal der Jugend von heute ist, während sie für ihre Person darauf bestand, »Co« genannt zu werden.
»Niemals werde ich begreifen, warum ihr mir einen Namen gegeben habt, der einen bunten Hund aus mir macht!« hatte sie eines Tages empört ausgerufen.
Wir hatten einander betreten angesehen. Corinna, geniale und leidenschaftliche Romanheldin des neunzehnten Jahrhunderts! Vielleicht hätten wir daran denken sollen, daß wir uns im zwanzigsten befanden!
Wenn Co samstags herauskam, wehte eine andere Luft im Hause. Die Tatsache, daß sie sechs Jahre älter war als Julia und elf als Michael, schien ihr das Recht zu geben, sich an der Erziehung der jüngeren Geschwister zu beteiligen. Ihre knappen, klaren Feststellungen hatten etwas Beunruhigendes.
»Julis Zerfahrenheit grenzt ans Sagenhafte«, sagte sie beispielsweise, »ich an deiner Stelle würde mir Sorgen machen.«
»Würdest du?« fragte ich freundlich.
»Man darf doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie ein Mensch sein Leben verschläft«, ereiferte sich Co.
»Sie wird schon aufwachen«, sagte ich. »Schließlich kann es nicht nur vollkommene Menschen geben, nicht wahr?«
Co