»Ja, Mutter, vom Hörensagen kenne ich ihn gut. Er ist von Reims. Gewöhnlich hat er in Reykjavik gewohnt, und da ist er auch jetzt. Ein Jahr lang hat er sich auch hier am Eyjafjördur aufgehalten bei unserem Freund Einar Asmundson, auf dem Gute Res.«
»Ganz richtig.
Pfarrer Baudoin hat mir nun vor kurzem einen Brief geschrieben, worin er mitteilt, daß ein französischer Edelmann aus Avignon, das unten am Mittelmeer liegt, eine große Vorliebe für Island gefaßt hat. Er soll ein guter, frommer Mann sein, und zudem sehr reich. Nun ist es sein größter Wunsch, daß zwei isländische Jungen zu ihm nach Avignon kommen. Er will für sie sorgen, sie studieren und auf die beste Weise erziehen lassen. Sie sollen ungefähr zwölf Jahre alt sein, gesund, gut erzogen und müssen Lust und Fähigkeit zum Studieren haben.«
»Aber Mutter, glaubst du, daß ich alle diese Eigenschaften besitze?« fragte ich etwas verlegen und kleinlaut.
»Ich hoffe es, mein Junge. Herr Baudoin schreibt nämlich, er sei durch unseren Freund Herrn Einar Asmundson auf uns aufmerksam geworden. Und nun fragt er mich, ob ich auf sein Angebot eingehen wolle. Wenn wir beide einverstanden sind, dann sollst du schon im August abreisen.
Das ist ein ganz ungewöhnliches Angebot, und ich bin gewiß, wenn dein Vater noch lebte, würde er sofort darauf eingehen.«
»Aber, Mutter, du sagtest, es sollten zwei Jungen sein. Wer ist denn der andere?«
»Das ist einer von Herrn Einar Asmundsons Söhnen, ein netter und begabter Junge. Er heißt Gunnar. Er reist schon vor dir ab. Du wirst ihn in Kopenhagen treffen. Von dort werdet ihr dann zusammen nach Frankreich reisen.
Noch etwas will ich dir sagen. Ein Herr hier am Eyjafjördur hat dasselbe Angebot für seinen zwölfjährigen, sehr begabten Sohn Thorhall erhalten. Der Vater war schon entschlossen, seinen Sohn reisen zu lassen. Der Junge selbst war auch einverstanden. Aber die Mutter war dagegen; sie fürchtete, es könne ihn auf der weiten Reise ein Unglück treffen. Der Vater war zwar davon überzeugt, daß Gott dort geradesogut über ihr Kind wachen würde wie hier; doch die Mutter wollte nicht nachgeben, und so wurde nichts aus der Reise. Jetzt sollst du, wenn es dir recht ist, Thorhalls Platz einnehmen.«
»Wie ist doch alles das merkwürdig, Mutter! – Aber wie soll die Reise vor sich gehen?«
»Du fährst von hier mit dem letzten dänischen Handelsschiff, das dieses Jahr Akureyri verläßt. Wahrscheinlich wird es das kleine bornholmische Schiff ›Valdemar‹ sein, mit Kapitän Foß. In den nächsten Wochen kommt es hierher und bleibt eine Zeitlang hier liegen. Es wird dich direkt nach Kopenhagen bringen, wo du dann einige Zeit bleiben mußt.«
»Bei wem werde ich aber in Kopenhagen wohnen, Mutter?«
»Bei einem vornehmen deutschen Herrn. Man nennt ihn ›Präfekt‹; sein Name ist Hermann Grüder. Er soll ein sehr gewissenhafter und guter Mann sein. Bei ihm wirst du Gunnar antreffen. Herr Grüder will für den anderen Teil der Reise, von Dänemark nach Frankreich, sorgen.«
»Aber, Mutter, ich kenne diesen Herrn Grüder nicht, und bei ihm werde ich wohl keine Isländer finden. Wäre es nicht möglich, daß ich bei einer isländischen Familie in Kopenhagen wohnen könnte? Es ist doch was ganz anderes, bei seinen Landsleuten zu sein als bei wildfremden Menschen.«
»Das wird nicht gut gehen, mein lieber Nonni. Aber du brauchst nicht ängstlich zu sein, sowohl er als auch die anderen Leute alle, die in seinem Hause wohnen, werden dich sehr gut und liebevoll behandeln. Ich habe mich über die Verhältnisse erkundigt.«
Die Worte meiner Mutter beruhigten mich.
»Aber, Mutter«, fuhr ich fort, »ich werde doch einige Isländer in Kopenhagen besuchen können?«
»Gewiß, mein Kind, und ich werde dir Briefe an verschiedene unserer Landsleute mitgeben. Du wirst sehen, mein Kind, es wird dir in Kopenhagen an Freunden nicht fehlen. – Und jetzt, mein lieber Nonni«, fuhr die Mutter ernst fort, »in der kurzen Zeit, die du hier noch verweilst, mußt du dich recht zusammennehmen. Bist du einmal von hier abgereist, dann beginnt ein ganz neues Leben für dich. Dann bin ich nicht mehr da, um dich ermahnen und dir raten zu können. Deshalb mußt du schon jetzt versuchen, dich wie ein Mann und nicht wie ein kleiner Junge und unvernünftiger Knabe zu benehmen.«
Und mit Nachdruck setzte sie hinzu, indem sie mich liebevoll anschaute:
»Vor allem mußt du darauf sehen, gut Freund mit Gott zu bleiben, mein Kind. Vertraue dich mehr und mehr ihm im Gebet an. Wir müssen bald voneinander Abschied nehmen, und wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden. Nun, so möge Gott für dich Vater und Mutter sein.«
Diese Worte meiner guten Mutter machten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich in Tränen ausbrach.
Die Mutter stand auf, strich mir zärtlich über die Haare, tröstete und beruhigte mich.
»So«, sagte sie, »nun geh zu den anderen Kindern, die draußen im Sonnenschein spielen.«
Auf dem Berge
Ich wischte meine Tränen ab und ging hinaus.
Unwillkürlich zog es mich hinab zum Strande, um dort mit meinen Freunden wieder zu spielen, zu laufen und zu springen. Das hatte ich bisher immer am liebsten gemacht.
Aber plötzlich war alle Lust dazu auf einmal verschwunden. Ich blieb stehen und schaute hinab auf all die Kinder dort unten.
Ihr Spielen kam mir jetzt vor wie etwas, das mich nichts anging, ja als etwas so Leeres und Gleichgültiges, daß ich mich umwandte und den Bergabhang gleich hinter unserem Hause hinauflief.
Ich wollte allein sein. Ich mußte nochmals alles das überdenken, was sich eben zugetragen hatte.
Bald war ich so hoch oben, daß ich nach Norden hin meilenweit hinaus über den mächtigen Eyjafjördur schauen konnte.
Es war so still und einsam hier. Im Westen stiegen die hohen Berge bis hinauf zu den Wolken, im Osten sah ich die spiegelblanke Wasserfläche des Eyjafjördur und darüber hinweg die Bergkette Vadlaheidi.
Weit, weit draußen im Norden entdeckte ich mitten im Fjord einen kleinen schneeweißen Punkt, der einer schwimmenden Möwe glich. Es war ein einsames Segelschiff, das, wie es schien, fortsegelte. Es fuhr wohl hinaus auf das offene Meer, in den Atlantischen Ozean.
Auf so einem kleinen Fahrzeug, dachte ich, werde ich auch bald sein und zu einem fernen, sonnigen Strande fahren. Dort wartet auf mich eine ganz unbekannte Welt.
Wie wird es mir da wohl gehen?
Ich werde zwischen fremden Menschen leben müssen, die eine mir unbekannte Sprache sprechen und andere, ungewohnte Sitten und Gebräuche haben.
Da bin ich dann ganz allein, ohne Vater und Mutter, ohne Geschwister, ohne Freunde und Verwandte, ja, ohne Vaterland.
Alle diese Gedanken drängten mit unheimlicher Gewalt und Klarheit auf mich ein, als ich so dem kleinen, weißen Schiff nachschaute, das immer mehr meinen Blicken entschwand.
Es kam mir vor, als wäre ich auf einmal älter geworden. Jetzt sollte ich anfangen, Mann zu werden, hat die Mutter gesagt. Aber würde ich dazu imstande sein? Lief ich nicht Gefahr, ganz allein und verlassen in der großen, weiten Welt unterzugehen?
Wäre es nicht besser, ich änderte meinen Entschluß und nähme das seltsame Angebot nicht an? Ja, das wäre wohl das klügste.
Bange Furcht überfiel mich.
In meiner Herzensangst und Ratlosigkeit seufzte und stöhnte ich laut auf:
»Ach, mein Gott! Allmächtiger Gott, was soll ich anfangen? Hilf mir doch!«
Da auf einmal fuhr ich zusammen. Ich hatte Stimmen gehört – Kinderstimmen. Woher kamen sie? Ich konnte es nicht sagen.
Sonderbar!
Ich