Der letzte Mensch. Mary Shelley. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mary Shelley
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618371
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unter uns zu etwas Großem und Gutem zu erheben. Er legte dar, dass durch die Freiheit, die sie genossen, England mächtig und dessen Bewohner tapfer und weise geworden seien. Während er sprach, schwoll jedes Herz vor Stolz, und jede Wange glühte vor Freude bei dem Gedanken, dass jeder Anwesende Engländer war und dass jeder etwas zu dem glücklichen Zustand der Dinge beigetragen hatte, dessen jetzt gedacht wurde. Rylands Inbrunst verstärkte sich – seine Augen leuchteten auf – seine Stimme nahm einen leidenschaftlichen Ton an. Es gebe einen Mann, fuhr er fort, der all das ändern und uns zu unseren Tagen der Machtlosigkeit und der Auseinandersetzungen zurückbringen wolle – einen Mann, der es wagen würde, sich die Ehre anzumaßen, die allen zukam, die England als ihren Geburtsort beanspruchten, und der seinen Namen und seinen Titel über den Namen und den Titel seines Landes setze. Ich sah an dieser Stelle, wie Raymond erblasste; seine Augen wandten sich vom Redner ab, er blickte zu Boden; die Zuhörer schauten von einem zum anderen; aber in der Zwischenzeit füllte die Stimme des Redners ihre Ohren – der Donner seiner Denunziationen trübte ihre Sinne. Die Kühnheit seiner Sprache gab ihm Gewicht; jeder wusste, dass er die Wahrheit sprach – eine bekannte, aber nicht anerkannte Wahrheit. Er riss der Wirklichkeit die Maske herunter, mit der sie verkleidet gewesen war, und die Absichten Raymonds, die sich bisher im Verborgenen gehalten hatten, wurden jetzt wie ein gejagter Hirsch in die Enge getrieben – wie jeder wahrnahm, der die unkontrollierbaren Veränderungen seiner Miene bemerkte. Ryland schloss damit, dass jeder Versuch, die königliche Macht wiederherzustellen, zum Verrat erklärt werden sollte und derjenige zum Verräter, der versuchen sollte, die gegenwärtige Form der Regierung zu ändern. Jubel und laute Zurufe folgten dem Abschluss seiner Rede.

      Nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte, erhob sich Lord Raymond – sein Gesichtsausdruck war mild, seine Stimme sanft und melodisch, sein Betragen ruhig, seine Eleganz und Sanftheit erschienen nach der laut tosenden Stimme seines Gegners wie ein leiser Flötenhauch. Er erhebe sich, sagte er, um zugunsten des Antrages des Herrn Abgeordneten zu sprechen, mit nur einem kleinen Zusatz. Er sei bereit, in alte Zeiten zurückzukehren und an die Kämpfe unserer Väter und die Abdankung des Monarchen zu erinnern. Voller Edelmut und Größe, sagte er, habe der berühmte letzte Herrscher Englands sich selbst dem scheinbaren Wohl seines Landes geopfert und sich einer Macht entledigt, die nur durch das Blut seiner Untertanen aufrechterhalten werden konnte – jener Untertanen, die nicht mehr solche genannt werden, diese, seine Freunde und Gleichgestellten, hätten ihm und seiner Familie aus Dankbarkeit stets gewisse Gefälligkeiten und Auszeichnungen erwiesen. Ihnen sei ein großes Gut zugeteilt worden, und sie hätten den ersten Rang unter Großbritanniens Adligen eingenommen. Doch könne man annehmen, dass sie ihr altes Erbe nicht vergessen hätten; und es sei schmerzvoll, dass ihr rechtmäßiger Erbe auf gleiche Weise leiden sollte wie jeder andere Bewerber um den Thron, wenn er versuchte, das wiederzugewinnen, was durch altes Recht und Erbschaft ihm gehörte. Er meine damit nicht, dass er solch einen Versuch gutheißen sollte; aber er sage, dass ein solcher Versuch lässlich wäre und dass, wenn der Bewerber nicht so weit gehe, den Krieg zu erklären und eine Fahne im Königreich zu hissen, seine Schuld mit einem nachsichtigen Auge betrachtet werden sollte. In seinem Änderungsantrag schlug er vor, dass in dem Gesetz eine Ausnahme zugunsten jeder Person gemacht werden sollte, die die Hoheitsgewalt im Namen des Grafen von Windsor geltend machte.

      Raymond kam auch nicht zum Ende, ohne den Glanz eines Königreiches im Gegensatz zum wirtschaftlichen Geist des Republikanismus in lebhaften und leuchtenden Farben zu zeichnen. Er behauptete, dass jeder Einzelne unter der englischen Monarchie damals wie heute in der Lage sei, einen hohen Rang und eine hohe Macht zu erlangen – mit einer einzigen Ausnahme, jener der Funktion des obersten Richters; ein höherer und edlerer Rang, als ein Tauschhandel treibender, furchtsamer Staatenbund anbieten könnte. Und worauf, bis auf diese eine Ausnahme, liefe es hinaus? Die Natur des Reichtums und des Einflusses beschränke die Liste der Kandidaten zwangsläufig auf einige der Reichsten; und es stehe sehr zu befürchten, dass der durch diesen dreijährigen Kampf erzeugte Unmut und Streit einen ungerechten Ausgang haben würde. Ich kann den Fluss der Sprache und die anmutigen Wendungen des Ausdrucks, die Klugheit und den sanften Spott, die seiner Rede Kraft und Einfluss verliehen, nicht wiedergeben. Seine Redeweise, anfangs zaghaft, wurde fest – sein wandelbares Gesicht begann übermenschlich zu strahlen; seine Stimme, so variantenreich wie Musik, war bezaubernd.

      Es wäre überflüssig, die Debatte aufzuzeichnen, die auf diese Ansprache folgte. Es wurden Parteireden gehalten, die die Frage in ihren Worten so sehr verzerrten, dass ihre einfache Bedeutung in einem aus Worten gewobenen Wind verschleiert wurde. Der Antrag scheiterte; Ryland zog sich in Wut und Verzweiflung zurück; und Raymond tat es ihm jubelnd und heiter nach, um von seinem zukünftigen Königreich zu träumen.

      Kapitel 4[a]

      Existiert ein solches Gefühl wie die Liebe auf den ersten Blick? Und falls dem so wäre, worin unterscheidet sich ihre Natur von der Liebe, die sich auf eingehende Beobachtung und langsames Wachstum gründet? Vielleicht sind ihre Auswirkungen nicht so dauerhaft; doch sie sind, solange sie bestehen, heftig und intensiv. Wir wandeln freudlos durch die unwegsamsten Irrgärten des Lebens, bis wir jenen Schlüssel in Händen halten, der uns durch dieses Labyrinth ins Paradies führt. Unsere trübe Natur schlummert wie eine unentzündete Fackel in formloser Leere, bis das Feuer sie erreicht; diese Essenz des Lebens, dieses Licht des Mondes und die Herrlichkeit der Sonne. Was spielt es für eine Rolle, ob dieses Feuer aus Feuerstein und Stahl geschlagen, vorsichtig zu einer Flamme genährt und langsam dem dunklen Docht mitgeteilt wird, oder ob die strahlende Kraft von Licht und Wärme rasch von einer verwandten Seele ausgeht und zugleich das Leuchtfeuer und die Hoffnung entzündet. In der tiefsten Quelle meines Herzens wurden die Takte gerührt; um mich herum, über und unter mir umfing mich die anhaftende Erinnerung wie ein Umhang. In keinem einzigen Augenblick der zukünftigen Zeit empfand ich wie damals. Der Geist von Idris schwebte in der Luft, die ich atmete; ihre Augen waren immer und ewig auf die meinen gerichtet; ihr Lächeln, an das ich mich erinnerte, blendete mich und ließ mich als einen Blinden zurück, nicht in die Finsternis, nicht in Dunkelheit und Leere – sondern in ein nie gekanntes, strahlendes Licht eingehend, das zu neu, zu gleißend für meine menschlichen Sinne war. Jedem Blatt, jedem kleinen Teil des Universums (wie auf der Hyazinthe ein Ai eingraviert ist) war der Talisman meiner Existenz aufgeprägt – SIE LEBT! SIE EXISTIERT! – Ich hatte noch nicht die Zeit gefunden, mein Gefühl zu untersuchen, mich selbst zur Vernunft zu rufen und in der unbezwinglichen Leidenschaft anzuleiten; alles war ein Gedanke, ein Gefühl, ein Wissen – es war mein Leben!

      Doch die Würfel waren gefallen – Raymond würde Idris heiraten. Die Hochzeitsglocken läuteten fröhlich in meinen Ohren; ich hörte die Gratulationen des Volks, das dem Brautpaar folgte, sah den ehrgeizigen Adligen mit raschem Adlerflug sich vom untersten Rang zum Königtum erheben – und zur Liebe Idris’. Doch halt, dies nicht! Sie liebte ihn nicht; sie hatte mich ihren Freund genannt; mich hatte sie angelächelt; mir hatte sie die größte Hoffnung ihres Herzens, das Wohlergehen Adrians, anvertraut. Diese Erinnerung erwärmte mein erstarrendes Blut, und wieder strömte die Flut des Lebens und der Liebe ungestüm heran und verebbte wieder, als sich meine geschäftigen Gedanken veränderten.

      Die Debatte endete um drei Uhr morgens. Meine Seele war in Aufruhr; ich überquerte die Straßen mit eifriger Hast. Wahrlich, ich war in dieser Nacht verrückt – die Liebe, welche ich von Geburt an als eine Riesin bezeichnet habe, rang mit der Verzweiflung! Mein Herz, das Schlachtfeld, wurde von der eisernen Ferse des einen verwundet, von den Tränen der anderen getränkt. Der mir verhasste Tag dämmerte heran; ich zog mich in mein Quartier zurück – ich warf mich auf eine Liege – ich schlief – war es Schlaf? –, denn meine Gedanken waren noch wach – Liebe und Verzweiflung kämpften noch immer, und ich krümmte mich unter unerträglicher Pein.

      Ich erwachte halb betäubt; ich fühlte eine schwere Last auf mir, wusste aber nicht woher; ich trat gewissermaßen in das Kabinett meines Geistes ein und befragte die verschiedenen Minister, die darin versammelt waren. Nur zu bald erinnerte ich mich an alles, nur zu bald zitterten meine Glieder unter der Marter, nur zu bald erkannte ich, dass ich ein Sklave war!

      Plötzlich betrat Lord Raymond unangekündigt meine Unterkunft. Er kam fröhlich herein und sang das Tiroler Freiheitslied, bedachte mich mit einem gnädigen Nicken und warf sich auf ein Sofa gegenüber der Kopie einer Büste des Apollo von