•Schließlich sind Diagnosen unerlässlich im professionellen und wissenschaftlichen Diskurs, sei es in der Kommunikation mit der Krankenkasse, sei es als Basis für wissenschaftliche Untersuchungen. So schreibt Ludewig (1996, S. 50): »In der Praxis steht man vor der unvermeidbaren Notwendigkeit, subjektive Beobachtungen zu konventionell brauchbaren Einheiten zu verallgemeinern, um rasche Verständigung zu gewährleisten und geeignete Maßnahmen einzuleiten.«
Psychiatrische Diagnosen nach ICD oder DSM bringen aber auch viele gravierende Risiken und Gefahren.
•So verführen Diagnosen dazu, den Blick auf das Individuum zu lenken, das das auffällige Verhalten zeigt, und die Störung in seiner Person zu verorten. Sie beschreiben die Störung als persönliches Merkmal bzw. als individuelle Eigenschaft, die prinzipiell jedoch schwer zu ändern ist (»Sie ist eine Borderlinerin!«, »Er ist ein ADHSler!«). Systemisch betrachtet, sind die Störungen demgegenüber am einfachsten zu behandeln, wenn man sie in den Beziehungen verortet und wenn man das Verhalten eines Menschen im Kontext seiner wichtigsten Interaktionspartner zu verstehen und zu verändern sucht.
•Diagnosen psychischer Störungen führen zudem zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung auf die diagnostizierte Störung und bergen damit die Gefahr der Festschreibung, der Petrifizierung (Versteinerung), der Etikettierung und der sich selbst erfüllenden Prophezeiung in sich.
•Diagnosen orientieren den Blick zudem auf die angeblichen Defizite des Einzelnen und seines zugehörigen Systems und schaffen damit im Sinne von Michael Durrant (1996) einen Kontext des Versagens. Hilfreicher ist demgegenüber der Blick auf die Ressourcen, auf das trotzdem Erreichte und auf die mögliche Lösung in der Zukunft. Die potenzielle Lösung als Thema der Therapie schafft einen Kontext der Kompetenz.
•Diagnosen psychischer Störungen – vor allem verstanden im Sinne von Krankheit (siehe oben) – definieren den Einzelnen als passiv Leidenden (eben im wörtlichen Sinne als »Patienten«), der der Störung ausgeliefert ist. Entsprechend wird dann formuliert: »Sie hat eine Angststörung.« »Er hat eine Störung des Sozialverhaltens.« Systemisch betrachtet, ist der Einzelne demgegenüber ein aktiv Handelnder: »Er verhält sich sozial auffällig (psychotisch, depressiv u. a.).« »Sie zeigt Angst.« Oder: »Sie angstet«, um einen Begriff zu nutzen, den Christoph Thoma (2009) schon im Titel seines Buches Angsten und Entangsten nutzt. Der Patient handelt aus systemischer Sicht in der beschriebenen Art aus »gutem Grund«, denn andernfalls würde der Betroffene nicht so handeln.
•Diagnosen werden von vielen Menschen mit einem traditionellen, eher somatisch geprägten Krankheitsbegriff verbunden, dem zufolge der Patient für die Lösung des präsentierten Problems nicht verantwortlich ist, sie vielmehr im Zuständigkeitsbereich der Therapeutin liegt. Das schafft eine vermeidbare Hürde, da solche Menschen erst davon überzeugt werden müssen, dass nur sie selber – zusammen mit ihren Angehörigen – die gewünschten Änderungen vollziehen können. Die systemische Therapeutin sieht sich lediglich in der Lage, Anstöße zu Selbstorganisationsprozessen im Klientensystem zu geben, die dessen Mitglieder eigenständig verwirklichen.
•Etymologisch betrachtet, bedeutet diagnostizieren: »genau unterscheidend erkennen«. Damit stellt sich die Frage: Wer oder was wird erkannt? Wird der Klient erkannt im Sinne von: »Ich weiß, was du hast und was mit dir los ist!«? Oder wird die Diagnose erkannt im Sinne von: »Ich weiß, was ich therapeutisch machen muss!«? Beide Ideen machen Kommunikation weitgehend überflüssig. Sie verhindern die interessierte, unbefangene Neugierde auf die Art und Weise, wie der Patient seine Welt konstruiert, welche Vorannahmen ihn leiten (und möglicherweise Leid erzeugen) und in welche Verhaltensmuster er eingebunden ist. Es besteht die Gefahr, dass die Störung dann behandelt wird, nicht die Person, die sich als störend bzw. gestört zeigt oder erlebt.
•Diagnosen verleiten zu der Annahme, dass es diese Störung tatsächlich gibt. Diagnosen sind jedoch lediglich typisierende Beschreibungen von Verhalten – eine Landkarte, die Orientierung ermöglicht, mit der Realität aber wenig gemein hat. Das wissen auch die Autorinnen und Autoren des DSM-IV-TR (Sass et al. 2003), die in der Einführung zur deutschen Ausgabe formulieren: »Dabei verführt die Scheinsicherheit einer operationalen Definition, die ja vielfach nichts anderes als das Resultat eines politisch determinierten Konsensusprozesses ist, dazu, den mit einem psychopathologischen Begriff gemeinten, oft komplexen Sachverhalt als Realität zu akzeptieren und nicht mehr genauer zu überprüfen.« Wir sollten immer im Hinterkopf behalten, so schreibt Ludewig (1996, S. 50), »dass wir es bei den ›Krankheitsbegriffen‹ mit Produkten unserer sinnstiftenden Tätigkeit zu tun haben und nicht mit ontischen, von uns Beobachtern unabhängigen Gegebenheiten. Dies dürfte uns davor bewahren, Menschen allzu rasch zu kategorisieren und Standardprozeduren zu unterziehen. Denn so nützlich diese sind, um das weitere Handeln anzuleiten, so leicht können sie den Eindruck des Gegebenen erwecken, zumal diese ›Generalisierungen Kürzel mit hoher Unabhängigkeit gegen die Art und Weise ihres Zustandekommens‹ sind (Luhmann 1984, S. 138). Beim umsichtigen Umgang mit sinnhaften Festlegungen nehmen wir zwar Ungewissheit in Kauf, bewahren uns aber zugleich vor der ›Verführung der Gewissheit‹ und deren Folgen (vgl. Maturana u. Varela 1987).«
•Zudem »passt« die Beschreibung im Einzelfall eigentlich nie. Und für die Therapeutin ist wichtig, dass alles, was beschrieben wird, grundsätzlich – wie Wittgenstein sagt – auch anders beschrieben werden kann. Das heißt für die therapeutische Situation, dass ein Symptom grundsätzlich auch als weniger leidvoll und weniger einschränkend angesehen und erlebt werden kann bzw. könnte.
•Diagnosen können von der Therapeutin als »Herrschaftswissen« missbraucht werden, mit dem er gegenüber seinem Klienten oder Klientensystem eine dominante Position untermauert. Damit würde sie sich weit von einem systemischen Patient-Therapeut-Verhältnis entfernen, das seit der kybernetischen Wende von der Familientherapie zur Systemischen Therapie nicht mehr durch einen hierarchischen, sondern einen kollaborativen Stil und das Bemühen der Therapeutin um eine Begegnung mit seinem Patienten auf Augenhöhe geprägt ist. Die systemische Therapeutin sieht den Patienten oder den »Kunden« als Experten für sich selbst, als »Kundigen«, der allein entscheiden kann, welche der im therapeutischen Gespräch aufscheinenden Lösungen für ihn passend und angemessen ist. Die Therapeutin verstört alte Verhaltensmuster und eröffnet ein Spektrum neuer Perspektiven und Möglichkeiten, vertraut aber darauf, dass der Patient der kompetente Entscheidungspartner ist.
Die Vorteile von Diagnosen unhinterfragt zu nutzen ist ebenso unangemessen wie die Verteufelung von Diagnosen aufgrund der aufgezeigten Risiken und Gefahren. Wichtig ist, dass die Therapeutin in der jeweiligen speziellen Situation weiß, was sie tut. Sie muss jeweils die Vor- und Nachteile bei ihrem Umgang mit Diagnosen in Bezug auf ihren Patienten und seine Angehörigen im Blick haben und die »Fallen« bzw. »Stolpersteine« kennen, in die sie tappen bzw. über die sie stolpern kann.
Manche Familien kommen bereits mit einer festen diagnostischen Überzeugung zum ersten Therapiekontakt. Dann ist es notwendig, genau zu hinterfragen, welche Bedeutung die Diagnose für die einzelnen Familienmitglieder hat, welche Inhalte sie genau mit der Diagnose verbinden und was anders sein würde, wenn die Therapeutin möglicherweise zu einer anderen diagnostischen Einschätzung kommen würde. Dieses »Verflüssigen« von Diagnosen kann der entscheidende Schritt dafür sein, gemeinsam mit dem Patienten und seiner Familie nach für dieses System passenderen Lösungen zu suchen.
Umgekehrt gibt es keinen Grund für die systemische Therapeutin, davor auszuweichen, wenn Eltern eine diagnostische Einschätzung wünschen. Allerdings ist auch in einer solchen Situation zu erfragen, welche Bedeutung eine Diagnose für die einzelnen Familienmitglieder hat und was das für ihre Sicht auf das Kind/den Jugendlichen, für die Prognose des Verhaltens des Kindes und für den weiteren Therapieprozess bedeutet. Der Diskurs über diese Fragen ist ein eminent wichtiges therapeutisches Element, das darüber entscheidet, ob es der Patientin mit ihren Angehörigen und der Therapeutin gelingt, ein gemeinsam getragenes therapeutisches Vorgehen zu entwickeln und das Verhalten des Kindes in seinem Sinne möglichst positiv zu beeinflussen. Spitczok von Brisinski (1999, S. 45) beschreibt mit Hinweis auf Glenn (1984) Diagnosen als soziale Ereignisse und verweist