Am nächsten Tage erzählt man sich in allen Leutestuben der Umgegend, daß Poul Nielsen mit Asmus Bent in Streit geraten ist und ihn blutig geschlagen hat.
Das Wetter ist trocken geblieben, trockener sogar, als der Bauer es gewünscht hat. Es ist höchste Zeit, daß der Roggen geerntet wird. Im Kjelderuphof hat es seit einigen Tagen scharfe Arbeit gegeben: Die Sensen, die Mähmaschinen, die Geräte sind nachgesehen und in Bereitschaft gesetzt worden. Die Eisenteile blitzen, an den Rechen und Harken fehlt kein Holzzahn. In die Scheune sind fünf neue Tagelöhner eingezogen. Morgen soll die Erntearbeit beginnen.
Es wird in der nächsten Woche kaum noch freie Zeit geben, darum ist Walter Münch heute abend noch einmal die dreiviertel Stunden Wegs nach Höjris gegangen, um Ragna Hvid zu besuchen. Sie wohnt in der Volkshochschule, deren steiles, rotes Dach aus einem Kranz alter, breiter Buchen hervorleuchtet.
Walter Münch geht gern nach Höjris. Es ist gut sein dort, sowohl in der hellen, großen Mansardenstube, in der Fräulein Hvid ihr „Kontor“ hat, wie unten in der Wohnung Jens Jörrings, des jungen Schulleiters. Jens Jörring ist überhaupt ein Mann nach Walters Herzen: groß und schlank, semmelblond, mit einem ernsten Denkergeist und ein Paar großen, hellen Fridericusaugen. Jens Jörring ist der Sohn eines jütischen Heidebauern. Er sitzt gern nach Feierabend ein wenig zusammen mit Walter Münch, und die Stunden haben für beide ihre großen Vorteile. Jens Jörring frischt sein Schuldeutsch auf, und Walter lernt nicht nur ein gut Teil mehr von der dänischen Sprache, er bekommt auch einen Einblick in das Volksleben des Landes.
Höjris ist keine einfache Schule. Es ist eines der geistigen Zentren des flachen Landes, eine Heimstätte der Landjugend wie Askow und Vallekilde. Walter staunt immer wieder über die freie Aufgewecktheit der Bauernjungen und -mädchen, die abends in Jens Jörrings großer Schulstube sitzen und seinen Vorträgen folgen. Ein Lied zu Beginn des Vortrags, helle, aufmerksame Augen, verständige Zwischenfragen während der Stunde, ein gemeinsames Lied zum Schluß und ein derber, kameradschaftlicher Händedruck mit Jens Jörring — das ist Höjris. Von griechischer und römischer Vorzeit wissen die jungen Menschen in Höjris nicht viel, aber die Geschichte ihres Landes von der Bautasteinen der Vorzeit bis zum heutigen Tag, die kennen sie dafür um so besser. Sie lernen ihre Muttersprache lieben, ihre Schönheiten verstehen in Dichtung und Lied. Eines dieser Lieder hat Walter ganz besonders gefallen:
Wir lieben das Land.
Mit dem Schwert in der Hand
Soll der Feind aus der Fremde gerüstet uns finden.
Doch gegen Unfried und Streit
Unter uns woll’n wir weit
Auf den Hügeln der Väter die Feuer anzünden.
Es gibt Trolle und Hexen, die überall schalten,
Die woll’n wir mit Feuer vom Leibe uns halten.
Wir woll’n Fried hierzulands,
Sante Hans, Sante Hans!
Er wird wohnen, wo niemals die Herzen im Zweifel erkalten.
Verwandtes, Volksgleiches hat aus diesem alten Sankt-Hanslied über Grenzpfähle und Sprachenunterschied zu Walter Münch gesprochen. Jens Jörring hat, als er entdeckte, daß Walter mit der deutschen Volksdichtung nicht unbekannt war, ihn sofort aufgefordert, seinen Schülern etwas davon zu erzählen. „Sie sollen sich nicht vorbereiten und einen Vortrag halten,“ hat er lächelnd gesagt, als Walter verlegen Einspruch erhob, „Sie sollen uns einfach etwas erzählen, genau so, als ob Sie mit Kameraden im Krug oder in der Leutestube säßen.“ Walter hat seine Verlegenheit überwunden und den dänischen Bauernjungen von Hermann Löns erzählt, und die jungen Leute von Höjris haben ihm zugehört, ernst und verständnisvoll, ohne auch nur ein einziges Mal einen der vielen Fehler zu belächeln, die Walter in der dänischen Sprache unterliefen. Nachher hat Jens Jörring noch ein paar verständige Vergleiche gezogen zwischen dem Dichter der deutschen Heide und Steen Blicher, dem alten dänischen Heidedichter. Seit jenem Abend ist Walter Münch stillschweigend in die Gemeinschaft von Höjris aufgenommen worden.
Jens Jörring ist noch im Schulgarten, als Walter heute Höjris erreicht. Er steht zwischen den Rosenstöcken und sucht bedächtig die schönste der vollerblühten Blumen aus.
„Ja, Fräulein Hvid ist oben,“ beantwortet er freundlich die Frage Walters. „Gehen Sie nur hinauf und — hm ja — nehmen Sie doch bitte diese Rose hier mit! Sagen Sie ihr, es sei die letzte von den brandroten, die sie so gern mag.“
Ragna Hvid räumt gleich ihren Tisch, auf dem in kleinen Säckchen Samenproben und allerlei Tabellen liegen, ab, als Walter eintritt. Ihre ernsten, grauen Augen bekommen einen Schimmer von Fröhlichkeit.
„Gefällt es Ihnen noch immer auf dem Kjelderuphof, Münk? Oder haben Sie nun genug davon?“
Walter schüttelt erstaunt den Kopf. „Warum sollte ich?“
Ragna macht sich am Tisch zu schaffen und vermeidet es, ihn anzusehen. „Nun, ich dachte ... Nielsen-Kjelderup soll kein besonders sympathischer Mann sein. Man spricht davon, daß er den Häusler Asmus Bent zuschanden geschlagen haben soll.“
Walter verteidigt seinen Hausvater und erzählt ausführlich, was er über den Streit weiß. Eine Weile hört Ragna mit untergeschlagenen Armen ruhig zu, dann unterbricht sie ihn plötzlich:
„Sie nennen so oft Karen Nielsen, Münk. Gefällt sie Ihnen so sehr?“
„Karen ist ein gutes, liebes Mädchen,“ sagt Walter ruhig, aber er weiß selbst nicht, daß in seinen Augen dabei ein stilles Leuchten steht. Ragnas Lippen werden schmal, der fröhliche Schimmer in ihren Augen erlischt langsam.
„Ich glaube, Sie lieben Karen Nielsen.“
Verwundert sieht Walter auf. Der Ton klang so kalt und hart. Er will vorsichtig abstreiten, aber Ragna macht nur eine unwillige Handbewegung. „Vielleicht wissen Sie es selbst noch nicht genau, Münk, aber ich sehe es kommen: Sie werden sich in Karen Nielsen verlieben, und das tut mir leid für Sie, denn es wird Ihnen kein Glück bringen.“
So kalt ist die Stimme, daß Walter alle Vorsicht vergißt und sich offen zur Wehr setzt. „Wäre das ein Unglück, Karen Nielsen zu lieben, Fräulein Ragna?“
„Sie mag ein gutes Mädchen sein,“ sagt Ragna nachdenklich, „aber sie gehört zum Kjelderuphof, Münk. Liebe zu den Leuten vom Kjelderuphof bringt kein Glück. Aber lassen wir das. Kommen Sie mit hinunter zu Jens Jörring! Es gibt Heringe in Zwiebeltunke heut abend.“
Jens Jörrings Abendtisch ist eine lange Tafel. Außer ihm selbst und Frau Anker, der ewig geschäftigen, ewig lustigen Haushälterin, sind noch acht junge Höjrisschüler und -schülerinnen da. Die jungen Leute reden bedachtsam und verständig mit Jens Jörring über allerlei landwirtschaftliche Fragen, sachlich und ohne Scheu, wie Bauern mit einem Bauer reden, bis das Gespräch langsam übergleitet auf Gebiete, die das ganze Land berühren: brennende Probleme der Politik und des geistigen Lebens. Zum Schluß, als der Tisch abgeräumt und der Tabak verqualmt ist, gibt’s noch ein paar gemeinsame Lieder:
„Weißt du noch? Im Sommer!
Wir kehrten vom Felde heim.
Da wandtest du mir entgegen
Fragend die Äugelein.
Da wurde mir mit einmal klar,
Wie blind bisher ich war.
Sag mir, kleine Karen,
Was meintest du da?“
singen sie ungekünstelt und einstimmig in der Tischrunde. Einmal während des Liedes fühlt Walter den Blick Ragna Hvids auf sich ruhen mit einem so sonderbar ernsten, fast traurigen Ausdruck, daß ihm langsam eine Röte der Verlegenheit ins Gesicht steigt. Und noch eine andere Entdeckung macht er an diesem Abend. Jens Jörring liebt Ragna Hvid. Der junge Lehrer sagt und tut eigentlich nichts, was zu dieser Vermutung berechtigte. Er