Münch betrachtet verstohlen die ihm gegenüber Sitzende. Sie hat die Augen geschlossen und lehnt mit blassem, müdem Gesicht in ihrer Ecke. Schön ist dieses Gesicht nicht. Die breite Stirn trägt bereits ganz feine Faltenlinien, der Mund ist schmal und hart, und der Hals, der aus dem Einsatz des Sommerkleides hervorschaut, ist ein wenig hager. Aber irgend etwas Rührendes geht von diesem leidvollen, bitteren Gesicht aus, das ihn sympathisch berührt. Außerdem hat das Mädchen eine gesunde, kräftige Gestalt.
Die Reise von Vordingborg bis nach Jütland ist lang und umständlich. Umsteigen und stundenlanges Warten auf der kleinen Station Slagelse, bis man Anschluß erhält an den von Kopenhagen kommenden Schnellzug. Dann wieder in Korsör umsteigen auf das Fährschiff. Drüben, jenseits des Großen Belt, wieder in den Zug. Quer über die Insel Fünen bis zum Kleinen Belt. Abermals Fahrt mit dem Fährschiff von Middelfart nach Fredericia hinüber. Es ist bereits Nacht, als man den Kleinen Belt erreicht.
Ragna Hvid hat geschwiegen, stundenlang, und Walter hat dieses Schweigen geachtet. Wenn er ein Mann von Welt gewesen wäre, so hätte er ja wohl versucht, das Fräulein durch gewandte Erzählungen aufzuheitern und von seinem Leid abzulenken. Aber er ist nur ein einfacher Arbeitsmann. Er kann keine schönen Sprüche machen, keine „Konversation“ herbeizaubern, er kann nur taktvoll schweigen, wenn er nichts Vernünftiges zu sagen weiß. Aber selbst für das größte Leid wird dieses dauernde Schweigen unerträglich. Ragna Hvid fühlt selber, daß es besser sein wird, ein Gespräch anzuknüpfen, um ein wenig von den traurigen Gedanken abzukommen. Sie nickt dem Mann, der ihr auf der Fähre mit einer unbeholfen ritterlichen Bewegung das Plaid um die Schultern gelegt hat, dankbar zu.
„Wir werden rasch eine Arbeit für Sie finden, Herr Münk.“ Sie spricht den Namen Münch dänisch aus.
„Haben Sie selber da oben ein Gut, Fräulein? Oder Ihr Vater vielleicht?“
Ragna Hvid schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin Landwirtschaftskonsulentin in Höjris bei Randers. Wissen Sie, was das ist?“
„Hm, ja.“ Ganz klar ist ihm der Begriff nicht. „Ein Konsulent, das ist doch einer, den man um Rat fragt, nicht? So, wie es Rechtskonsulenten gibt?“
„Ganz recht, Herr Münk. Jemand, der den Bauern mit Rat und Tat unentgeltlich zur Seite steht, sie auf dem laufenden hält über den neuesten Stand der Landwirtschaft, ihnen hilft beim Ankauf von Maschinen, von Saatkorn, bei der Obstzucht und dergleichen. Wir müssen die landwirtschaftliche Hochschule besucht und auch zwei Jahre praktisch gearbeitet haben. Dann werden wir vom Staat angestellt und besoldet. Das heißt, ich bin vorläufig erst auf ein Probejahr nach Jütland geschickt worden.“
Walter Münch hat keine Ahnung von Dänemark. Er kennt nur ein paar der kleinen Häfen unten an der Südküste. „Allerhand Achtung,“ meint er darum erstaunt, „da muß die Landwirtschaft bei Ihnen ja schon mächtig vorgeschritten sein.“
Zum ersten Male stiehlt sich ein ganz leises Lächeln um Ragna Hvids strengen Mund. „Dänemark ist ein Bauernland, Herr Münk. Sogar aus Australien und Kanada kommen oft die Landwirte hierher, um unsere Betriebe kennenzulernen.“
„Und Ihr Vater?“
„Meinen Vater hab’ ich nie gekannt,“ sagt Ragna Hvid, und das kleine Lächeln ist wieder verschwunden. „Er starb ein Jahr nach meiner Geburt. Und meine Mutter ...“
Nun muß Walter Münch doch davon sprechen. Er greift beruhigend nach der Mädchenhand, die wieder nervös zu zucken begonnen hat, und sagt fast dasselbe, was heute mittag der Chefarzt in Oringe gesagt hat:
„Vielleicht war es das Beste für Ihre Mutter, Fräulein Hvid. Eine alte Frau ...“
„Meine Mutter war erst vierundvierzig Jahre alt,“ sagt Ragna Hvid tonlos. Münch macht verwunderte Augen.
„Wirklich? Wie alt sind Sie selbst denn, wenn die Frage erlaubt ist?“
„Ich bin einundzwanzig geworden.“
Münch schweigt erstaunt. Er hätte dies strenge, harte Gesicht auf mindestens achtundzwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahre geschätzt. Aber vielleicht machte nur das Leid dieses Gesicht so alt.
„Ich weiß, daß ich älter aussehe,“ sagt Ragna Hvid bitter. „Alle halten mich für eine Dreißigerin.“
Dann schweigen sie wieder beide.
*
Der Nachtschnellzug von Fredericia nach Aalborg donnert durch das jütische Land. Walter Münch ist eingeduselt auf seinem Sitz. Ragna Hvid betrachtet still sein im Schlaf etwas töricht aussehendes Gesicht. Ihr Blick gleitet bald darüber hinweg, weit, weit zurück in eine freudlose, kalte Jugend. Ein paar lustige Sommertage unter den Kameraden auf der Hochschule, eine kleine, harmlose Liebelei, die in Nichts zerstob. Ragna Hvid war eben zu streng und kalt, um sich einer Freude ganz hingeben zu können. Nicht, daß es in ihrem Leben keine hellen Tage gegeben hätte. Es waren genug Tage und Wochen da, die wert gewesen waren zu leben, sonnige Wochen auf dem blauen Oeresund, in den Buchenwäldern Seelands, auf weiten Wanderungen durch Jütlands roggenschwere Fluren, Wochen voll glühenden Arbeitseifers, gekrönt von glücklichen Erfolgen. Aber über all diesen Wochen und Tagen lag immer die Schwermut, die einen Schatten warf über die hellste Sommersonne. Und ein Tag ist da vor allem, ein Tag, der schon acht Jahre zurückliegt und von dem Ragna Hvid trotzdem nie loskommt: Jener Tag, da sie als Dreizehnjährige, als durch das Leid der Mutter viel zu früh reifes Mädchen, mit leergeweinten Augen der schwarzen, verschlossenen Kutsche nachsah, die ihre Mutter für immer fortführte — in die Irrenanstalt.
Ragna Hvid preßt die Lippen zusammen, bis sie ein schmaler, böser Strich werden, und starrt über Walter Münchs Kopf hinweg trostlos auf den Tag, der ihr junges Leben vergiftete.
In Aarhus wird Münch jählings wach. Leute sind in das Abteil eingestiegen, zwei schwergliederige, breite Männer, typische Bauerngesichter, die Ragna sogleich mit derbem Handschlag laut begrüßen, zwei Hofbesitzer aus der Randers-Gegend.
„Seh, seh! Fräulein Hvid! Wohl in Kopenhagen gewesen zur Landwirtschaftlichen Ausstellung, was?“
Walter Münch wundert sich ein wenig, daß das Fräulein Hvid ihren Bekannten gegenüber gar nichts erwähnt von dem Tod ihrer Mutter. Sie antwortet kurz und knapp auf die Fragen, aber die beiden gemütlichen Landwirte lassen sich nicht stören. Der eine ist ein bekannter Viehhändler, der eben auf dem Markt in Aarhus einen guten Abschluß gemacht hat, und auch sein Kamerad ist in offensichtlich guter Stimmung. Sie behandeln Fräulein Hvid mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit. Ein paar lustig-derbe Worte über die Stadt und ihre kleinen Vergnügungen, dann springt das laute Gespräch rasch über auf die Landwirtschaft. Ob das Wetter sich bis zur Ernte halten wird? Namen von Höfen und Bauern schlagen an Walters Ohr, Namen von Getreide- und Obstsorten, Saatkorn, Viehfutter. Und dann die Leute! Es ist ein Elend mit den Leuten heutzutage. Die jungen Burschen, die nicht selber bodenansässig sind, drängen in die Stadt, kaum, daß man noch einen vernünftigen Stamm von Landarbeitern bekommen kann. Ragna Hvid macht plötzlich mitten im Gespräch eine Bewegung nach Walter Münch hin.
„Der Mann hier sucht auch Arbeit oben bei uns. Ich kann ihn empfehlen.“
„Seh, seh!“ Der behäbige Großbauer betrachtet Walter Münch mit erwachtem Interesse. „Verstehen Sie denn was von der Landwirtschaft?“
Walter nickt. „Meine Eltern waren Bauern. Wir hatten zu Hause immer die dicksten Kartoffeln.“
„Der ist gut,“ lacht schallend der Landwirt, und der Viehhändler, der überall herumkommt und jeden Hof und seine Verhältnisse kennt, fügt nachdenklich hinzu:
„Wenn er Arbeit sucht ... Am besten geht er da gleich zu Poul Nielsen nach Kjelderup. Der sitzt hart drin. Sein Großknecht