Der Junker hielt ein wenig inne, um Atem zu schöpfen, und betrachtete teilnehmend seinen Wirt, dessen verstörtes Aussehen er der Erschütterung über das schreckliche Ende seines Verwandten zuschrieb.
»Der Pfarrer wollte das Opfer christlich bestatten«, fuhr er fort, »doch die erregte, abergläubische Gemeinde ließ es nicht zu, und die Leiche mußte an der Kirchhofecke bei Vagabunden und Selbstmördern eingescharrt werden. Ich will hoffen, daß die Nähe seines Schatzes dem unglücklichen Märtyrer nie den Schlummer gestört hat, wie wir es uns einst in kindischer Einbildung vorstellten. Denn solltet Ihr nach dem allem zweifeln, daß der so grausam Erschlagene wirklich Euer edler Verwandter war, so habe ich aus den Händen des Pfarrers den einzigen Wertgegenstand des Toten, seinen Siegelring, erhalten, der die eckigen Querbalken Eures Wappens trägt und der, wie ich gewiß bin, alle Zweifel beseitigen wird.
Nun werdet Ihr fragen, wie es kommt, daß ein so schweres Verbrechen keinen Richter fand in schwäbischen Landen. Aber, Herr, es herrschte damals wegen des Städtekriegs, der besonders in den östlichen Gauen raste, ein trauriger, rechtloser Zustand, bei dem auch das Leben der Landeskinder keinen Heller galt; wer hätte da um einen erschlagenen, namenlosen Fremdling viel Aufhebens gemacht. Mein Vater kehrte aus der städtischen Fehde nur als Leiche zurück, die Vormünder kümmerten sich nicht um die Gerichtsbarkeit, und jetzt ist die Übeltat verjährt; wie sollte man nach so langer Zeit noch die Schuldigen ausfindig machen?
Aber ich brauche Euch nicht zu sagen, wie mir das Geschick des unglücklichen Mannes zu Herzen geht und wie es mich drängt, die schwere Missetat, die auf meinem Grund und Boden begangen worden ist, zu sühnen. Der Pfarrer ist unterdessen angewiesen, täglich eine Messe für die Seele des Ermordeten zu lesen, und wenn ich zurück sein werde, soll es meine erste Aufgabe sein, dem edlen Märtyrer, den ich alsdann meinen Oheim nennen darf, eine würdige Ruhestätte zu bereiten. Eine Kapelle soll sich an dem Ort erheben, wo die gräßliche Tat geschah, und ich will mit meinem jungen Weibe täglich an der Gruft des Ermordeten beten.«
Hier machte der Junker abermals eine Pause, denn von dem langen Ritt und dem vielen Sprechen klebte ihm die Zunge am Gaumen.
Marcantonio hatte den Bericht bald mit entsetzten, bald mit bedauernden Gesten begleitet, innerlich aber zollte er dem Los seines Anverwandten wenig Teilnahme, denn ihm selber stand das Wasser jetzt am Halse. Doch trotz seiner Angst und Wut vergaß er die Pflichten des Wirtes und die sprichwörtliche florentinische Artigkeit nicht.
Er ließ sich mit dem späten Gast unter einem bunten Sommerdach nieder und schickte den in der Ferne wartenden Lucius nach Erfrischungen aus, mit dem nachdrücklichen Gebot, die Schläfer nicht zu stören, denn er möge es dem alten Herrn wohl gönnen, daß er für heute wenigstens von dieser gräßlichen Geschichte nichts mehr erfahre.
Der Junker begann mit gedämpfter Stimme aufs neue: »Nun war ein Teil meiner Sendung erfüllt, aber der zweite, schwierigere lag noch vor mir: die Wiedererlangung des Kodex. Solltet Ihr es glauben, Herr, daß niemand, nicht einmal der Pfarrer, mir den Namen jenes Mönches angeben konnte, der damals auf Schloß Stauffeneck geherbergt hatte und wahrscheinlich durch die Erzählung des Pfarrers veranlaßt worden war, sich das Manuskript von meiner Mutter auszubitten. Auf Stauffeneck kannte man ihn nur unter dem Namen Bruder Einhand, denn der Mönch war früher kaiserlicher Dienstmann gewesen und hatte bei einem Treffen seine linke Hand eingebüßt. Wie ich dennoch seinen wahren Namen und jetzigen Aufenthalt erkundete, das, Herr Marcantonio, ist eine viel zu lange Geschichte, als daß ich Euch noch heute nacht damit ermüden dürfte. Es genüge, zu sagen, daß ich vor acht Tagen der Schwarzen Muttergottes von Einsiedeln meine Aufwartung machte, bei der ich gewiß sein durfte, meinen Mann zu finden. Ich täuschte mich nicht, aber der Einhändige hatte die Frechheit, den Empfang des Kodex zu leugnen, und erst da ich ihn hart in die Enge trieb, bekannte er, die Handschrift schon vor etlichen Jahren an einen italienischen Bücheragenten verkauft zu haben.
Zu meiner Schande muß ich bekennen, daß mich bei diesem abermaligen Zusammensturz meiner Hoffnungen die christliche Geduld völlig verließ, und es wäre fast zu einem Bruch des Klosterfriedens gekommen, denn ich schüttelte den Kuttenmann derb und ließ erst ab von ihm, als er mir den wehrlosen Stummel seiner Linken entgegenstreckte. Doch meine Fäuste hatten das Pfäfflein mürbe gemacht, es fragte jetzt kleinlaut, ob ich, da die Urschrift doch nicht mehr zu haben sei, mich mit einer sauberen, wortgetreuen Kopie zufrieden geben wolle, für die eine Entschädigung an das Kloster zu entrichten wäre. Ihr könnt Euch denken, wie begierig ich ja sagte, ich ließ mir das Manuskript einhändigen, das der Schelm vor Verkauf der Urschrift angefertigt hatte, also den welschen Agenten hintergehend, der den Kodex als einzig vorhandenes Exemplar erstand. Meine Zweifel an der Echtheit des Textes widerlegte der gelehrte Prior und schwur bei seinem wundertätigen Gnadenbild, daß er die Handschrift zurücknehmen und den Kaufschilling dreifach erstatten wolle, wenn die Florentiner gelehrten Herren den Inhalt nicht für echt erkennten. So ward der Kodex mein, ich warf mich zu Pferde, und hier bin ich in so kurzer Zeit, als je ein Reisender den Gotthardpaß überschritten hat. Meine große Eile gestattete mir nicht mehr, das Gutachten deutscher Gelehrter einzuholen, aber ich zähle auf die Einsicht und Billigkeit der florentinischen Akademie, vor allem auf meinen gnädigen, hocherleuchteten Gönner, den Herrn Lorenzo Medici.«
Marcantonio wischte sich den kalten Schweiß von der Stirne. Er erkannte mit furchtbarer Klarheit, daß sein Ruf, seine Ehre, sein Dasein, alles, alles zusammenbrach, wenn er nicht ebenso rasch und kühn wie verschlagen handelte. Er betrachtete den jungen Mann mit verstohlenen Blicken, die einem Todesurteil gleichkamen, und überlegte im Weiterschreiten, wie er sich am besten seines ahnungslosen Todfeindes entledige. Die Akademie! Lorenzo! Mehr brauchte er nicht zu denken, um jede Gewissensregung im Keim zu ersticken.
Schnell erwog sein findiger Geist die Möglichkeiten mit ihrem Für und Wider. Daß der Jüngling allein gekommen, war schon ein günstiger Umstand, Herrn Bernardos früher Schlummer bot eine andere sichere Handhabe zu Marcantonios Rettung.
Es galt vor allem, den Junkherrn aus der Nähe des Wohnhauses zu entfernen, und dann – Zeit gewonnen, alles gewonnen, dachte Marcantonio, indem er den ermüdeten Gast unter einem Rebendach nach dem Olivenwäldchen führte, das sich einen sanften Hügel hinanzog und in den Bezirk des Gutes mit eingeschlossen war. Sie hatten einen hohen Brückenbogen zu überschreiten, der über einen tief eingebetteten, jetzt fast vertrockneten Wildbach weg die beiden Hälften des Gutes verband, deren eine Seite mit dem Wohnhaus und dem Garten zu Terrassen geebnet war, während die andere als Olivenhain mit angrenzenden Ackerfeldern und Wiesengrund die ursprüngliche hügelige Gestalt beibehalten hatte. Dort stand auf einem Vorsprung in gleicher Höhe mit der Villa, aber durch den Wildbach auf die Entfernung eines Steinwurfes von derselben getrennt, ein ehemaliges Bauernhäuschen, das einmal bei Gelegenheit eines ländlichen Festes von Marcantonio mit einem hölzernen Anbau versehen worden war und jetzt zuweilen bei Überfüllung des Wohnhauses einem überzähligen Gast als Nachtherberge diente. Deshalb war in dem einzigen Zimmer des oberen Stockes immer ein Lager bereit, eine Strohmatte deckte den Boden, eine andere bildete den Fenstervorhang gegen die Sonnenglut. Die unteren Räume waren früher Ställe gewesen und wurden jetzt nebst dem hölzernen Schuppen als offene Heuböden benutzt, soviel sich in der anbrechenden Dunkelheit erkennen ließ.
In dieses Häuschen, dessen Außenseite ganz von wilden Rosen umwuchert war, führte Marcantonio seinen späten Gast unter vielen Entschuldigungen, daß er ihm für heute kein besseres Quartier anbieten könne.
Er entzündete ein zierliches Kettenlämpchen auf dem Tisch und öffnete die Türe, die nach der hölzernen Veranda führte, um frischere Luft einzulassen, aber draußen schien es ihm nicht minder schwül als innen. Er wollte dem