Er erhob sich schwerfällig, nahm seine Mütze und ging langsam mit gesenktem Kopf davon.
Wo war die Mutter hingegangen? Regine konnte es nicht begreifen; es wurde ihr bang und immer bänger zumute in der verlassenen Stube. Es wunderte sie, daß sie nach dem Kleinen sehen sollte; er war also nicht bei der Mutter, während er sonst immer an ihrem Rocke hing und der Mutter Liebling war. Wo mochte er jetzt sein?
Sie ging in den Hof und dann hinaus auf die Straße, wo ein kalter Wind blies und die Dämmerung sich schon herniedersenkte. Sie suchte nach dem Kleinen und fand ihn endlich ganz erfroren an der nächsten Straßenecke stehen. Ein schmächtiges Bübchen war der kleine Hansel, aber ein feines Gesichtchen hatte er, und seine blonden Locken waren der Mutter Stolz. Er stand an der Ecke und sah die Straße hinauf.
»Hansel,« rief ihn die Schwester an, »komm heim. Hast ja ganz kalte Hände; was tust du denn da?« – »Ich wart auf die Mutter, schon so lang,« sagte er kläglich. Ob der Kleine etwa wußte, wo die Mutter war? Regine fragte das Kind.
»Dorthin ist sie,« sagte er, die Straße hinauf deutend. »Der Mann hat sie geholt, der, mit den großen goldenen Knöpfen. Sie hat doch gar nicht mit ihm gewollt und hat geweint. Warum hat sie denn gestohlen? Was heißt das ›gestohlen‹? Wohin führt sie jetzt der Mann?«
Regine konnte die Fragen nicht beantworten; sie war zu sehr bestürzt über die Schuld der Mutter, die das unschuldige Kind ihr verriet. Jetzt begriff sie alles; die Mutter war in das Gefängnis geführt worden! Mit Mühe konnte sie das Kind überreden, mit ihr heimzugehen.
Unter der Haustüre stand die Hausfrau mit einer Nachbarin und Regine hörte sie sagen: »Pelzwerk hat sie gestohlen und beim Trödler verkauft.« Nun schwiegen die Frauen; sie sahen die zwei Geschwister kommen und hörten den Kleinen rufen: »Ich will aber auf die Mutter warten!«
»Hansel, da kannst du lang warten,« sagte die Hausfrau und sah das kleine Bübchen mitleidig an. Regine, die beschämt und mit gesenkten Augen an den beiden Frauen vorbei das Brüderchen in das Haus zog, hörte sie noch sagen: »Die ganze Familie ist nichts nutz; die große Tochter treibt es auch schon wie die Mutter.«
Nun ging Regine in das Zimmer und zog die Türe hinter sich zu; sie mochte nichts weiter hören.
Was war das für ein langer und trauriger Abend! Der Kleine ließ sich endlich zu Bett bringen und weinte sich in Schlaf. Regine saß allein an dem großen Tisch, dachte an die Mutter; wo sie wohl wäre, und ob sie Heimweh hätte nach ihrem Liebling. Sie hätte gerne gewußt, wie man den Diebstahl entdeckt hatte. Schon manchmal hatte die Mutter, wenn sie da und dort in die Häuser ging, etwas mitgenommen, und Regine hatte den Vater warnen hören: »Man wird dich schon einmal erwischen.« Aber er nahm doch auch gerne an, was die Mutter »gefunden« hatte, wie sie das nannte. Marie, die große Tochter, hatte auf diese Weise manches Schmuckstück bekommen, die Mutter putzte so gerne ihre schöne Tochter. Sie versorgte auch Thomas mit seiner Wäsche, und dem kleinen Hans steckte sie oft gute Sachen zu. Nur sie selbst, Regine, wurde selten bedacht. Die Mutter hatte an ihr nicht das Wohlgefallen, wie an den Großen, und nicht den Spaß, wie an dem Kleinen. Regine wußte das und es kam ihr natürlich vor. War sie doch nicht schön wie Marie, nicht gescheit wie Thomas, nicht lustig wie der Kleine; nein, sie war auch in ihren eigenen Augen unter allen die geringste. Aber das hatte sie nie bedrückt; sie war in der Schule immer so leidlich mitgekommen, ohne Lob und Tadel, ohne Freundschaft und Feindschaft, und war guten Mutes ihren Weg gegangen.
Aber nach dem, was jetzt vorgefallen, war ihre Seelenruhe dahin. Als sie sich am nächsten Morgen auf den Schulweg machte, war es ihr, als müßten alle Kinder ihr die Schande des Hauses ansehen. Die Worte der Nachbarin: »Die ganze Familie ist nichts nutz,« klangen ihr noch im Ohr; sie gehörte doch auch zur Familie, sie war also »nichts nutz«. Die Mitschülerinnen sahen sie aber doch nicht mit anderen Augen an als sonst, und die Schulstunden gingen vorüber wie jeden Tag. Nach der Schule kam aber der Konfirmanden-Unterricht. Wenn hier nun die Schande des Hauses bekannt würde, wenn gar der Pfarrer selbst davon gehört hätte? Wie schrecklich mußte ihm dies vorkommen!
Es saßen wohl siebzig Mädchen im Konfirmanden-Unterricht beisammen. Dem Pfarrer waren nicht all diese Kinder und ihre Familien persönlich bekannt; auch von der Familie Lenz kannte er nur Regine und diese nicht näher. Sie steckte so mitten unter den Vielen, und ihre kleine Gestalt verschwand hinter den vor ihr Sitzenden. Heute war ihr das lieb; sie hätte sich gerne noch dünner gemacht, so dünn, daß alle Menschen sie übersehen hätten.
Aber sie hatte sich unnötig geängstigt; die Stunde verlief wie alle vorhergehenden, und als ihr auch die nächsten Tage kein Zeichen brachten, daß jemand von dem Vorgefallenen wisse, beruhigte sie sich allmählich.
Auch daheim war nicht oft davon die Rede, bis eines Tages der Vater mitteilte: »Heute war die Verhandlung vor Gericht. Am nächsten Montag kommt die Mutter fort in die Strafanstalt nach S. Vier Monate muß sie sitzen.«
»So lang!« rief Marie, die Älteste, betroffen, und darauf fing der Kleine laut an zu schluchzen. Reginens erster Gedanke war, daß die Mutter dann nicht bis zu ihrer Konfirmation zurück sein würde. Man brauchte so manches für diesen Tag, wer würde ihr das Nötige verschaffen? »Vater,« sagte sie bekümmert, »das geht doch gar nicht; die Mutter wäre ja dann nicht hier, wenn ich eingesegnet werde.«
»Wenn sonst nichts wäre,« entgegnete der Vater; »so wichtig wird das nicht sein.«
Aber Regine erschien das sehr wichtig. Sorgenvoll ging sie heute in den Unterricht; saß stiller als sonst an ihrem Platz und hob nur selten die Hand auf als Zeichen, daß sie gerne eine Frage des Geistlichen beantwortet hätte; und als nun gar diese Fragen von der Unehrlichkeit handelten, von dem dunklen Punkt in der Familie Lenz, da rührte sie sich nicht mehr und rückte hinter den breiten Rücken der vor ihr Sitzenden, um dem Pfarrer ganz aus dem Gesicht zu kommen. Es war aber, als ob dieser es bemerkte; denn plötzlich rief er sie bei Namen und richtete eine Frage an sie. Regine erhob sich; sie wußte die Antwort und öffnete schon den Mund, um zu sprechen. – Da stockte sie plötzlich und kehrte sich um nach dem Mädchen, das hinter ihr saß.
»Nun, Regine,« mahnte der Pfarrer. Da wandte sie ihm wieder ihr Gesicht zu, aber das war wie verwandelt, von Röte ganz übergossen. Sie machte doch noch einen Versuch zu antworten, aber Tränen erstickten ihre Stimme. In großer Not bedeckte sie das Gesicht mit ihrem Arm und schwieg.
Hinter ihr flüsterten und kicherten die Mädchen, bis der Pfarrer dicht an die Bank herantrat und fragte, was es gäbe. Regine antwortete nicht; aber die neben ihr Sitzende sprach: »Ich hörte Emilie Forbes sagen: Regine Lenz muß ja wissen, was unehrlich heißt.«
Sogleich erhob sich Emilie Forbes und sagte lebhaft: »Nun ja, es ist gestern in der Zeitung gestanden, daß ihre Mutter wegen Diebstahls zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde.«
»Still!« rief der Pfarrer so laut und streng, daß all seine Schülerinnen an dem ungewohnten Ton erschraken und lautlos nach Regine sahen, die sich gesetzt hatte und das Gesicht mit den Händen bedeckte, da sie aller Augen auf sich gerichtet fühlte, als ob sie selbst die Diebin wäre. Aber nicht gegen sie wandte sich nun der Pfarrer; an Emilie Forbes richtete er verweisende Worte: »Ob deine Anschuldigung wahr ist, weiß ich nicht,« sagte er; »aber das weiß ich, daß es lieblos und ganz unverzeihlich von dir ist, solche Worte zu sagen. Fühlst du nicht, daß du Regine damit wehe tust? Und kann sie etwas dafür, wenn ihre Mutter ein Unrecht begangen hat? Nein, sie selbst kann so ehrlich sein wie jede von euch und dabei nicht so herzlos wie du!«
Tiefe Stille herrschte in dem Saal, und als der Pfarrer wieder den unterbrochenen Unterricht fortsetzte, war ihm wohl anzumerken, daß ihn das Vorgefallene noch bewegte. Er fühlte, daß in dieser Stunde seine kleine Konfirmandin etwas erlebt hatte, was sie nie im Leben wieder vergessen würde, ja, was ihr auch schaden mußte. Man hatte ihre Ehre angetastet; das hätte er gerne wieder gut gemacht, gleich in derselben Stunde.
Regine Lenz hielt die Blicke gesenkt und sah nicht mehr um sich während des Unterrichts.