»Ihnen wird Klärchen ein liebes Töchterchen werden,« sagte Fräulein Stahlhammer.
»Wir nehmen sie auch gerne zu uns. Zu Ostern läßt es sich zwar nicht mehr einrichten, aber von den Sommerferien an können wir sie aufnehmen.«
»Dann behalte ich sie noch diesen Sommer hindurch,« sagte die Patin bereitwillig. »Ihre Brüder können sie besuchen so oft sie wollen, und ich werde ihr auch eine kleine Kamerädin verschaffen. Eine meiner Bekannten hat auch so ein einzelnes Töchterchen im gleichen Alter. Bis jetzt hielt ich das Kind absichtlich fern, damit Klärchen sich mehr an mich anschließe, aber nun, da sie doch fort kommt, ist’s gleichgültig.«
»Bitte sprechen Sie dann selbst mit dem Vormund darüber,« sagte Frau Professor Kuhn, »mein Mann würde wohl nicht gern noch einmal bei ihm seinen Vorschlag wiederholen.«
»Ja, das werde ich tun. Ich weiß, daß seit Weihnachten die beiden Männer nicht gut miteinander stehen. Glauben Sie mir, ich war damals nicht so herzlos, als Sie denken mußten; ich wollte dem Kind am Christfest bescheren, der geputzte Baum stand schon versteckt im Kämmerlein. Das Kind wußte es nur nicht und Mine sagte leider nichts davon.«
»So war es?« sagte die Tante. »Das zu hören freut mich noch nachträglich; ich werde es daheim erzählen, ich selbst war trotz allem Anschein immer von Ihrer edlen Gesinnung überzeugt.« Sie drückte warm die Hand der Patin und fügte herzlich hinzu: »Wenn Sie wieder wohl sind, kommen Sie mit dem Kind zu uns, nicht wahr; wir wollen uns näher kennen lernen und späterhin, wenn Klärchen ganz bei uns ist und Sie besuchen uns, dann werden Sie auf einmal merken, daß das Kind Sie doch lieb hat.«
»Wollen Sie Klärchen rufen? Ich möchte es ihr gleich mitteilen.« Die Tante führte das Kind herein. »Klärchen,« sagte die Patin, sich im Bett aufrichtend, »weißt du, was deine Tante mit mir ausgedacht hat? Im Sommer, wenn deine Brüder Ferien haben, darfst du zu ihnen und darfst ganz und für immer bei Onkel und Tante bleiben!«
»Aber der Vormund holt mich gleich wieder,« sagte Klärchen.
»Diesmal nicht,« sagte die Patin, »jetzt erlaubt er es, er führt dich vielleicht selbst in die Stadt.«
Nun sah man der Kleinen an, daß sie die Wichtigkeit der Nachricht erfaßte. Sie schmiegte sich zärtlich an die Tante und sagte: »Dann bist du meine Mama und der Onkel ist mein Papa und die Brüder sind wieder alle Tage meine Brüder!«
»Ja, so wird es,« sagte die Tante; aber sie schob sanft die Kleine weg zur Patin hin und sagte: »Sieh, deine Patin hat das so eingerichtet, weil sie weiß, daß es dich freut.«
»So,« sagte Klärchen freundlich, »hast du’s eingerichtet? Gelt dann bist du auch froh, wenn ich fort bin, dann sind alle, alle froh!« rief sie in einem Ton, der glückselig klang, wie ihn die Patin noch nicht an ihr gehört hatte.
Fräulein Stahlhammer erholte sich langsam und für diesen Sommer gab sie ihre Tätigkeit in den Vereinen auf, sie sollte so viel wie möglich im Freien sein. Sie nahm Klärchen mit sich zu den täglichen Gängen in den nahen Wald; und nicht nur Klärchen, sondern auch die kleine Altersgenossin, die sie ihr zur Kamerädin bestimmt hatte. Es war ein Ereignis für Klärchen, als zum erstenmal die kleine Mathilde sich zu ihr gesellte, denn eine Freundin hatte sie noch nie gehabt.
Von nun an, wenn Fräulein Stahlhammer an einer Bank am Saume des Waldes Rast machte, spielten die Kinder stundenlang mit ihren Puppen im Moos und Gebüsch und waren voll Fröhlichkeit miteinander. Mathilde kam in aller Unbefangenheit zu Fräulein Stahlhammer mit all ihren Anliegen, und Klärchen, die zuerst staunte über diese Zutraulichkeit, gewöhnte sich bald selbst daran; vergessen schien jetzt die Vergangenheit, vergessen auch die Zukunft, die Gegenwart war schön.
Eines Tages, als Fräulein Stahlhammer wieder auf der Bank im Wald saß und die Kinder spielten, kam des Wegs eine ganze Schar kleiner Mädchen, zwei Lehrerinnen an der Spitze. Sie machten mit ihren Schülerinnen einen Waldspaziergang, und da sie Fräulein Stahlhammer kannten, blieben sie ein wenig stehen und begrüßten sie. Mathilde, die manche der Kinder kannte, kam herbeigesprungen, Klärchen hielt sich zur Patin.
»Im Herbst kommt ihr beiden wohl auch in die Schule, nicht wahr?« sagte eine der Lehrerinnen freundlich zu den Kindern.
»Ich schon,« sagte Mathilde, »ich freue mich darauf, aber Klärchen kommt fort.«
Die lustige Schar zog wieder davon und die Kinder kehrten zu ihren Puppen zurück. Aber Klärchen war nicht recht bei der Sache und nach einer Weile kam sie zögernd zur Bank her, auf der die Patin lesend saß, legte ihr die Hände auf den Schoß und sagte leise: »Patin?«
Diese sah auf die Kleine hinunter: »Was willst du, Kind?«
»Patin, darf ich zu den Brüdern, oder muß ich hin?«
»Du darfst, du mußt nicht.«
»Patin, dann will ich lieber bei dir bleiben, darf ich?«
»Ob du darfst?« sagte die Patin; ihr Buch fiel auf den Boden, denn das Kind war auf einmal auf ihrem Schoß, das Kind, das doch schon bald Schulkind werden sollte; und es schlang beide Arme um ihren Hals und Fräulein Stahlhammer drückte es an sich und besaß nun, was sie so lange gewünscht hatte: ein Kinderherz, das sie lieb hatte! Wie sie es gewonnen hatte, wußte sie selbst nicht zu sagen; seitdem sie nicht mehr danach gestrebt hatte, war es ihr zugefallen. Und es wurde ihr fester, unbestrittener Besitz. Klärchen bestand die Probe: Mit Bangen ließ die Patin das Kind für einige Tage zu den Brüdern zu Besuch, um zu sehen, ob es sich nicht getäuscht habe; aber aus dem lauten Getümmel des knabenreichen Hauses in der Großstadt verlangte es bald zurück in das stille, ländliche Häuschen, zu der Patin und zu der kleinen Freundin. Onkel und Tante freuten sich darüber, auch die Brüder fanden sich nun leicht darein, sahen sie doch ihr Schwesterchen glücklich.
Und der Vormund? Er kam, als er von dem veränderten Entschluß hörte, nach langer Zeit wieder einmal eines Morgens heraus nach Waldeck. Er sagte zu Katharine, die ihm die Türe öffnete: »Wenn Sie mich künftig nicht eine Viertelstunde warten lassen, ist es mir lieber;« die Schwester fragte er: »Hältst du es mit all deinen Beschlüssen so, daß du sie dreimal umstößt?« Er empfahl Klärchen: »Sei nur recht dankbar!« und dann kehrte er mit der Überzeugung, ein gewissenhafter Vormund zu sein, möglichst bald aus dem »elenden Nest« zurück, zur feinen Mittagstafel in der Stadt.
Regine Lenz.
Regine Lenz kam aus der Konfirmandenstunde heim. Wer es nicht wußte, hätte nicht gedacht, daß sie schon zu den Konfirmanden gehörte; sie war wohl die kleinste von allen, dabei schmal und schmächtig; ein Persönchen, das wenig Platz einnahm in der Welt und leicht zu übersehen war. Es achtete auch niemand viel auf sie, als sie nun in die kleine Wohnung eintrat, in der die Familie wohnte. Der Vater war um diese Nachmittagsstunde meist nicht zu Hause, sondern irgendwo als Wegmacher an der Arbeit; auch die zwei größeren Geschwister pflegten um diese Zeit nicht daheim zu sein. Deshalb wunderte sich Regine, ihren Vater, die älteste Schwester Marie und ihren Bruder Thomas zu treffen, hingegen von der Mutter und dem jüngsten Brüderchen nichts zu sehen. Alle schienen mit ihren Gedanken beschäftigt, und zwar mit unerfreulichen, nach ihren düsteren Mienen zu schließen.
Regine scheute sich zu fragen, was vorgefallen sei; denn sie galt im Haus noch als ein Kind, das sich in die Angelegenheiten der Großen nicht einzumischen habe. Ihr Bruder Thomas griff jetzt nach seiner Mütze und ging ohne Gruß davon, worauf Marie nach einem hoch aufgeputzten Hut langte, ihn sich vor einem kleinen, zersprungenen Spiegel zurechtsetzte und sich an Regine wandte: »Ich muß jetzt fort; sorg du für den Kleinen. Ich weiß nicht, wo der hingelaufen ist, du mußt ihn suchen.«
Sie ging und ließ Regine allein zurück mit dem Vater,