Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper. Agnes Sapper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes Sapper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788027208784
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      »Quälen wollte ich dich nicht, nur belehren, aber du läßt dich nicht belehren. Statt Gründe vorzubringen, kommst du mit deinem Herzen. So sieh eben zu, wie du zurechtkommst. Ich will mich nicht weiter einmischen, nur an das eine möchte ich dich noch mahnen: ohne Strenge wird kein Kind erzogen. Erinnere dich, wie hart wir beide erzogen wurden.«

      »Gewiß,« sagte die Patin, »das gebe ich ja zu, Strenge muß sein.«

      »Nun ja, das wollte ich auch nur betonen; wenn du es in diesem besonderen Fall durchaus nicht für angemessen hältst, so will ich da nicht eingreifen.« So klang die Unterredung noch versöhnlich aus. Ein paar Stunden später war der Vormund auf der Heimreise begriffen.

      Wenn wir es mit Klärchen gut meinen, so müssen wir uns jetzt nach ihrem verlorenen Wickelkind umsehen.

      Ein altes Mütterchen, das an seinem Fenster saß, während Herr Stahlhammer mit Klärchen vorüberging, hatte die Puppe fallen sehen. Sie öffnete das Fenster; es ging nur nicht so schnell, denn zuerst mußte vorsichtig der Vorhang weggezogen werden. Als sie sich hinauslehnte, waren die Beiden schon ein gutes Stück vom Haus weg und der schwache Ruf der Frau wurde vom Wagengerassel übertönt. Ein kleiner Junge sprang vorüber. »Reich’ mir die Puppe herauf!« rief die alte Frau, und so kam das verlorene Gut in ihre Hände. Sie hatte das ängstliche Zurückschauen Klärchens bemerkt und der schmerzliche Blick ging ihr nach. Wenn sie sich auch immer wieder sagte: »Ein dummes Dinglein ist’s gewesen, daß es seine Puppe nicht aufgehoben hat, es geschieht ihr recht,« so konnte sie sich doch nicht eher beruhigen, als bis sie in das Anzeigeblatt eine Anzeige eingesandt hatte: »Eine Wickelpuppe gefunden. Bahnhofstraße 5 p.«

      Als am nächsten Tag Frau Professor Kuhn nach ihrer Gewohnheit den Anzeiger las, fiel ihr Blick auf das Wort »Wickelpuppe«. Sie hatte ja erst mit so viel Liebe eine solche Puppe gekleidet. Gut, daß Klärchen in der Eile wenigstens ihre Schätze noch mitgenommen hatte. Wie traurig, wenn sie auch ihr Wickelkind entbehren müßte! Wo hatte man die Puppe gefunden? In der Bahnhofstraße. Durch die mußte Klärchen mit dem Vormund gekommen sein. Wie merkwürdig, daß zwei Wickelpuppen an diesem Wintertag durch die Bahnhofstraße getragen wurden! Oder sollte es gar die von Klärchen sein? Ja, das Kind hatte so vielerlei zu tragen gehabt; gewiß hatte es die Puppe fallen lassen, ohne es zu bemerken. Die Tante hatte kaum vor den Kindern diese Befürchtung ausgesprochen, als auch Heinrich schon davonrannte nach der Bahnhofstraße. Frohlockend kam er nach kurzer Zeit mit dem kostbaren Gut zurück. Das Lächeln der Vorübergehenden, die den Lateinschüler so fröhlich mit der Wickelpuppe springen sahen, beachtete er nicht. Die Leute meinten wohl, es sei eine gewöhnliche Puppe, ein Spielzeug; aber das war es ja nicht, es war etwas anderes, war Klärchens Ein und Alles!

      In der Familie des Professors hatte Klärchens Entführung allgemeine Entrüstung hervorgerufen, und nun, da noch das Mitleid hinzukam, reifte bei Konrad ein Entschluß. Er wollte die Puppe nach Waldeck bringen und dort bleiben über die ganzen Weihnachtsferien, um zu sehen, ob Fräulein Stahlhammer immer so hart gegen ihr Patchen sei, wie es ihnen allen am heiligen Abend erschienen war. Als er am Familientisch diesen Vorschlag machte, kamen von allen Seiten Entgegnungen.

      »Fräulein Stahlhammer wird jetzt niemand aus unserem Haus willkommen heißen,« meinte der Onkel; die Tante fürchtete, der Vormund werde es nicht billigen; Heinrich fand, daß er überall sonst seine Ferien lieber zubringen würde als bei Fräulein Stahlhammer. Aber allen wäre es von Wert gewesen, Näheres zu erfahren über Klärchens neue Heimat, und so war das Ende der Beratung doch, daß Konrad nach Waldeck gehen und dort sein Glück probieren solle. Er schnürte sein Bündelchen und machte sich auf den Weg.

      An diesem Tag ging Klärchen so müßig umher, daß es der Patin auffallen mußte, denn sie war gewöhnt, die Kleine immer mit ihrer Puppe beschäftigt zu sehen. »Wo ist denn heute deine Puppe?« fragte sie. Klärchen erschrak, nach Mines Warnung wagte sie nicht die Wahrheit zu sagen. »Hole doch deine Puppe herein,« wiederholte Fräulein Stahlhammer, »wo hast du sie denn?«

      »Ich weiß nicht,« sagte Klärchen.

      »So suche oder frage Mine danach.«

      Klärchen ging in die Küche. »Mine, was soll ich sagen, die Patin fragt nach der Puppe?«

      »Sagst nur, du habest sie bei der Tante gelassen.«

      »Ich habe aber schon gesagt, daß ich nicht wisse, wo sie ist.«

      »Dann sagst du wieder so.«

      Lange scheute sich die Kleine, wieder ins Zimmer zu gehen; als sie es endlich tat, stand Fräulein Stahlhammer in Hut und Mantel da, im Begriff, einen Ausgang zu machen. Klärchen hoffte schon, sie würde nicht mehr gefragt, aber das erste Wort der Patin war: »Nun, hast du die Puppe? Hast du sie nicht gefunden? Und Mine auch nicht?« Die Kleine war in sichtlicher Verlegenheit, die Patin merkte, daß etwas nicht in Richtigkeit war. »Nun sag’ mir einmal, wo sie ist, Klärchen?« Da schlug die Kleine die Augen nieder und sagte: »Ich weiß nicht.«

      Fräulein Stahlhammer suchte Mine auf. »Das Kind will mir nicht sagen, wo die Puppe ist. Wissen Sie etwas davon?«

      »Ach, das arme Wurm getraut sich’s nur nicht zu gestehen, sie hat ja die Puppe mit auf die Reise genommen und unterwegs verloren.«

      Fräulein Stahlhammer war peinlich berührt. Das Kind hatte Mine ihr Vertrauen geschenkt, ihr selbst aber die Unwahrheit gesagt. Ja, diesmal mußte Strafe sein; das war ein anderer Fall, lügen durfte das Kind nicht, um keinen Preis. Als sie wieder ins Zimmer kam, warf die Kleine einen ängstlichen Blick auf sie, ein böses Gewissen war deutlich auf dem Gesicht geschrieben. »Klärchen,« sagte die Patin, »warum hast du mir nicht gesagt, daß du deine Puppe verloren hast? Warum hast du gesagt: ich weiß nicht? Da hast du mich angelogen, und das ist ganz abscheulich, so mag ich dich nicht, und so mag der liebe Gott dich nicht. Sieh, wenn ein Kind so böse ist, dann wird es genommen und zur Strafe da hinauf gesetzt.« Mit diesen Worten faßte Fräulein Stahlhammer die kleine Gestalt, hob sie hoch hinauf und setzte sie oben auf den Schrank, der an der Wand stand. Die Kleine schrie, streckte beide Arme ängstlich an die Wand und wagte gar nicht, von der Höhe herunter zu schauen. »Da bleibst du nun sitzen,« sagte Fräulein Stahlhammer, »und nimmst dir vor, daß du ein andermal nicht mehr lügen willst. Alle unartigen Kinder werden da oben ganz brav. Sei nur still, denn solange du noch weinst, bist du noch ganz unartig und fällst vielleicht herunter. Wenn du aber brav sein willst und ruhig, dann kannst du gar nicht fallen, und wenn ich heimkomme, hebe ich dich herunter.«

      Als Klärchen das hörte, war sie ganz still; die Patin ging. Draußen sagte sie noch zu Mine: »Ich habe das Kind zur Strafe auf den Schrank gesetzt. Wenn ich in einer halben Stunde nicht kommen sollte, dann holen Sie sie herunter, aber früher nicht.«

      Die Patin ging; neugierig schlich Mine sich ins Zimmer. Wirklich, da saß die Kleine hoch droben, regungslos an die Wand gedrückt. Mine fühlte sich selbst schuldig, ihr Gewissen schlug, gerne hätte sie die Kleine aus ihrer Lage erlöst. »Ich möchte dich gerne herunterholen, Klärchen,« sagte sie, »aber wenn die Patin vielleicht noch einmal umkehrt, zankt sie.«

      »Nein, du darfst mich nicht holen, sonst falle ich,« sagte Klärchen. »Bloß, wenn man brav ist, hält man fest, die Patin hat’s gesagt. Gelt, ich bin jetzt brav? Ich lüge jetzt nicht und ich lüge auch das nächstemal nicht, wenn ich ein Wickelkind verliere. Gelt, dann kann ich gar nicht fallen?«

      »Nein, nein, du fällst nicht,« beruhigte Mine. Sie hatte wirklich Mitleid. »Ich gehe schnell hinaus, weil jemand geklingelt hat, aber dann komme ich gleich wieder herein zu dir.« Geklingelt hatte Konrad. Daß er gerade in diesem Augenblick erschien, paßte Mine vortrefflich; er sollte nur seine kleine Schwester in ihrer traurigen Lage sehen, das konnte schon zu dem Entschluß beitragen, sie nicht hier zu lassen. Sie führte ihn unvorbereitet ins Zimmer und der gute Junge erschrak, als er sein Klärchen in solcher Höhe erblickte. Sie aber strahlte, als sie ihn hereinkommen sah. »Konrad, Konrad!« rief sie, wagte sich aber nicht zu rühren. »Fräulein Stahlhammer hat sie da hinauf gesetzt,« sagte Mine, »zur Strafe; ich darf es nicht herunterholen, das arme Kind. Gut, daß Sie da sind, dann ist sie doch nicht so allein, denn ich sollte kochen,« und sie eilte in die Küche.