Klärchen gehörte nicht zu den Kindern, die sich schnell an neue Verhältnisse gewöhnen. In den nächsten Tagen schlich sie gar trübselig umher, die Sehnsucht nach der Mutter und den Brüdern erfüllte ihr ganzes Herz. Es dauerte nicht lange, so machte der Vormund seinen ersten Besuch, denn es lag ihm sehr daran, daß seine Schwester gut zurecht käme mit dem aufgedrungenen Pflegekind. Er traf die Kleine bei dem Mädchen, Fräulein Stahlhammer war nicht zu Hause. »Nun, wie geht es mit dem Kind?« fragte er die ihm wohlbekannte Dienerin. »O, nicht gut, Herr Rat,« antwortete diese, »das Kind gewöhnt sich nicht an seine Patin, es mag sie nicht.« Klärchen stand dabei und sah ängstlich und erschrocken auf, als sie diese Worte hörte und bemerkte, wie sich die Züge des Vormunds verfinsterten. »So etwas sollten Sie gar nicht vor dem Kinde sagen,« sprach er verweisend zu dem Mädchen, nahm Klärchen an der Hand und führte sie in das Zimmer. Er wollte das Kind gehörig ausschelten und ihm den Kopf zurechtsetzen, wie er es seiner Schwester versprochen hatte. Als er aber das kleine Wesen zitternd vor sich stehen sah, so recht wie ein hilfsbedürftiges Geschöpfchen, da kam doch etwas wie Mitleid über den großen, starken Mann. »Ich tue dir nichts,« sagte er, »du brauchst nicht so vor mir zu zittern. Aber höre, was ich dir sage: Dein Vater ist gestorben und deine Mutter ist gestorben, und die Brüder sind fort und euer Haus ist leer. Es ist gar niemand da, der für dich sorgen mag außer deiner Patin; du mußt ihr gehorchen, ihr dankbar sein und sie lieb haben wie deine Mama; sonst bist du ein ganz undankbares Kind, verstehst du das?«
»Ja,« antwortete leise die Kleine.
»Versprich mir, daß du nicht undankbar sein willst.«
»Ich will nicht undankbar sein,« wiederholte Klärchen und sah dabei ganz ernsthaft aus; denn sie hatte die Rede des Vormunds wohl verstanden und fing an zu begreifen, daß die Patin ihr etwas Gutes tun wollte, indem sie sie zu sich nahm, und in ihrem guten Herzen regte sich sofort etwas wie Liebe und Dankbarkeit.
»Mine,« sagte sie später zu dem Mädchen, »ich muß die Patin lieb haben wie meine Mama, sonst bin ich undankbar.«
»Das kann man nicht von dir verlangen,« sagte Mine, »kein Kind hat die Patin so lieb wie seine Mutter, und sie ist ja auch gar keine Mutter und hat dich nicht so lieb wie ihr Kind.«
»Aber gelt, ein bißchen lieb hat sie mich doch, sie hat mich ja auch zu sich genommen.«
»Aber nicht aus Liebe, bloß weil es der Vormund verlangt hat,« sagte Mine. Da fiel ein trüber Schatten über das Gesichtchen der Kleinen und die erwachende Liebe erlosch bei den kalten Worten: »Bloß weil es der Vormund verlangt hat.«
IV.
Leicht hatten sich inzwischen die Brüder bei Onkel und Tante eingewöhnt. Aber je mehr sie sich einlebten in der neuen Umgebung, um so sehnlicher wünschten sie auch ihre Schwester herbei und täglich wurde der Kleinen, von der sie gar keine Nachrichten hatten, in Liebe gedacht. Der Vormund hatte bestimmt, daß in den ersten vier Wochen die Geschwister sich nicht besuchen sollten, damit beide Teile vor dem ersten Wiedersehen den Trennungsschmerz schon überwunden und sich in die neuen Verhältnisse eingewöhnt hätten. Klärchen wußte davon nichts; die Brüder hingegen erwarteten mit Ungeduld den vierten Sonntag, für den ihnen der Besuch in dem Städtchen Waldeck versprochen war, und fast ebensosehr sehnte sich die treue Tante danach, durch die Brüder Nachricht von der kleinen Nichte zu erhalten.
Es war ein trüber Novembertag. Die Knaben machten sich gleich nach Tisch auf den Weg und kamen nach einem tüchtigen Marsch in dem Städtchen an. Die Patin vermutete den Besuch wohl, doch wollte sie Klärchen nichts vorher davon sagen; sie freute sich auf die Überraschung des Kindes und gab nur heimlich dem Mädchen den Auftrag, etwas für den Empfang der jungen Wanderer bereit zu stellen. Als Mine erfuhr, was für Gäste erwartet wurden, spähte sie fleißig zum Fenster hinaus; denn sie wollte die Brüder sprechen, ehe dieselben heraufkamen. Es dauerte nicht lange, so sah sie zwei fremde Knaben des Wegs kommen; sie hatten Trauerflor an den Hüten und Mine konnte nicht zweifeln, daß es die Erwarteten seien. Rasch ergriff sie Klärchen, die im Vorplatz mit ihrem Puppenwagen spielte und flüsterte ihr zu: »Komm mit, ich weiß etwas, das dich freut,« und dann eilte sie mit dem Kind die Treppe hinunter. Die Brüder waren inzwischen schon in die Nähe des Hauses gekommen, Klärchen erkannte sie auf den ersten Blick und stürzte ihnen laut aufjubelnd entgegen. Aber im Übermaß der unerwarteten Freude und in Erinnerung ihrer schmerzlichen Sehnsucht ging der Jubel gleich in Tränen über, zur großen Bestürzung der Knaben, die sich die helle Freude des Kindes auf dem ganzen Wege ausgemalt hatten. »Sie dürfen sich nicht wundern, daß das Kind weint,« sprach nun Mine, »es hat so Heimweh nach Ihnen, und es ist ja auch kein Wunder, wenn man so klein schon unter fremde Leute kommt!«
»Hat sie sich noch gar nicht eingewöhnt?« fragte Konrad bekümmert.
»Nein, nein, und sie wird sich auch nicht eingewöhnen. Ein Kind gehört zu Kindern, da kann es sich vergessen, aber nicht bei einem einsamen Fräulein, die überdies halbe Tage lang gar nicht zu Hause ist.«
»Aber die Patin wird doch gut mit ihr sein?« rief Heinrich und bemerkte in seiner Erregtheit nicht, wie der ältere Bruder ihm zu bedeuten suchte, daß es nicht passend sei, weiter das Dienstmädchen auszufragen. »Ich will nichts sagen, es schickt sich auch nicht für mich,« antwortete Mine, »aber das Kind ist kreuzunglücklich, und wenn das noch lange dauert, so wird es noch krank werden.«
Besorgt sahen die Brüder in das Gesichtchen der Kleinen. Freilich, so frisch und blühend wie früher sah es in diesem Augenblick nicht aus, und jetzt hatte sie einen ihr sonst ganz fremden, ernsthaften Ausdruck; denn zum erstenmal kam sich das sonst so bescheidene Kind gar wichtig vor: es hatte erfahren, daß es unglücklich und zu bedauern sei.
Als die beiden Knaben nun mit der Schwester die Treppe hinaufkamen, waren sie in ganz anderer Stimmung als noch vor wenigen Minuten; sie bedauerten die Schwester und grollten der Patin. So traten die drei Geschwister in das Zimmer zu Fräulein Stahlhammer. Diese hatte sich gefreut auf das Wiedersehen der Kinder und nun war sie ganz um ihre Freude gekommen. Etwas betroffen trat sie ihnen entgegen; denn ein Blick auf Klärchen zeigte ihr, daß diese geweint hatte. Auch klammerte sie sich fest an den Arm ihres großen Bruders, und die ganze Gruppe sah eher feindselig als zutraulich aus. Konrad aber machte sich nun los von der Kleinen, begrüßte Fräulein Stahlhammer artig, richtete ihr Empfehlungen der Tante aus und erinnerte dadurch auch Heinrich an das, was sich schickte; doch behielt dieser einen etwas ingrimmigen Blick bei, und den ganzen Nachmittag verlor sich eine gewisse Befangenheit nicht. Klärchen hätte im Glück über das Wiedersehen mit den Brüdern wohl alles andere bald vergessen, aber Mine hatte die Gelegenheit wahrgenommen, ihr zuzuflüstern: »Mußt recht traurig und still sein, dann nehmen dich die Brüder vielleicht ganz mit heim,« und so war die ganze liebliche Unbefangenheit der Kleinen dahin; den Brüdern kam sie gar sonderbar verändert vor und mit schwerem Herzen verabschiedeten sie sich abends von der kleinen Schwester.
Zu Hause angekommen, wurden sie von allen Seiten mit teilnehmenden Fragen empfangen. Konrad gab nur kurzen Bescheid, es war ihm so traurig zumute, daß er fürchtete, seine Fassung zu verlieren. Aber Heinrich hatte um so mehr das Bedürfnis, sich auszusprechen. Onkel und Tante sollten es nur wissen, wie unglücklich sein Schwesterchen sei. Er schilderte das Wiedersehen auf der Straße, die Tränen der Kleinen, ihr verändertes Aussehen, den Bericht des Dienstmädchens und die große, ernste Gestalt der Patin, vor der er sich selbst gefürchtet hätte, und nannte es eine Grausamkeit, ihr das zarte Kind zu lassen.
»Heinrich, du machst es schlimmer als es ist,« warf Konrad dazwischen, »sie hat eigentlich kein unfreundliches Wort gesagt.«
»Natürlich nicht, wenn wir zwei dabei sind als Beschützer unserer Schwester; aber wenn sie allein mit Klärchen ist, wer weiß, was sie ihr da tut!«
»Nicht zu viel sagen,« wehrte der Onkel und auch die Tante versicherte: »Sie ist gewiß nicht schlimm, eure Mutter hat ja so viel auf sie gehalten.« Und nun mischten sich die Kinder des Hauses ins Gespräch: alle waren voll Mitleid und urteilten hart über die Patin, bis die Tante sie auf andere Gedanken brachte, indem sie sagte: »Nun kommt ja bald Weihnachten, da wollen wir die Kleine