Greiner nahm diese Anfrage schwer auf. Ihn drückte ohnedies die Sorge für seine Familie; es war kein Brot übrig und war kein Platz frei für ein weiteres Familienglied. Er war kränklich und schwach und wollte sich keine neue Lasten aufbürden, die alte drückte ihn schon schwer genug. Aber seine Frau sah’s anders an. »Wir nehmen das Mädchen,« sagte sie, »die Große, die Siebenjährige. Bedenk doch nur den Nutzen! Ein Bett hat sie, denn in reichen Familien hat jedes ein Bett, das muß sie mitbringen, da kann unsere Marie bei ihr schlafen, denk nur die Wohltat. Und dann die Arbeit, die sie tun kann! Sieben Jahre, wahrscheinlich bald acht, gleich kann sie Bälge füllen und jedes Jahr verdient sie mehr. Und dann bedenk doch, es sind doch deiner Schwester Kinder!«
Vater Greiner wurde ganz überstimmt, denn auch die Kinder stellten sich auf der Mutter Seite, Marie vor allem freute sich bei dem Gedanken an eine große Schwester. Aber wenn er auch nicht mehr viel sagte, es lag ihm doch schwer auf der Seele, und oft mußte ihn seine Frau in den nächsten Tagen drängen, bis endlich ein Brief nach Köln abging, in dem sich Greiner bereit erklärte, Edith, das siebenjährige Töchterchen, aufzunehmen. Gleich darauf kam der dritte Brief aus Köln. Er war von der Hand eines jungen Mädchens geschrieben, das als Kinderfräulein in der Familie Langbeck diente, und gerichtet an Frau Greiner. Sie teilte mit, daß Edith, schon ehe Greiners Brief angekommen war, eine freundliche Unterkunft gefunden habe, nicht so die Knaben. Sie bitte nun im Einvernehmen mit dem Vormund herzlich, statt Edith das jüngste Knäblein, den kleinen Alex, aufzunehmen. »Es ist ein goldiges Kind,« schrieb das Fräulein. »Es war unser aller Liebling; ich mag gar nicht daran denken, daß ich mich nun von ihm trennen muß, und ganz gewiß werden auch Sie und Ihr Herr Gemahl die größte Freude an ihm haben, und er wird herrlich gedeihen in der köstlichen Luft des Thüringer Waldes. Ich bin im Begriff, in meine Heimat zu reisen, komme nahe an Thüringen vorbei und wurde von dem Vormund der Kinder gebeten, Ihnen den Kleinen zu übergeben. So bringe ich Alex, wenn Sie nicht abtelegraphieren, schon übermorgen. Alex ist mit Soxhlet[*] aufgezogen, ich bringe diesen deshalb auch mit. Wenn Sie dadurch auch mehr Mühe haben, wird es doch für die ersten Wochen, bis der Kleine eingewöhnt ist, gut sein.« Der Brief war unterschrieben: »Elisabeth Moll, Kindergärtnerin.«
Frau Greiner hatte den Brief vorgelesen. Bei dem Wort »Soxhlet« stockte sie, das Wort hatte sie noch nie gelesen. »Wen bringt sie mit?« fragte Greiner. »Den Soxhlet bringt sie mit; das muß der größere Bruder sein, der vierjährige, der wilde, von dem sie neulich geschrieben haben.«
»Soxhlet, den Namen habe ich aber noch nie gehört,« sagte Greiner. »Die vornehmen Leut’ haben immer so tolle Namen«, meinte die Frau. »Alex steht gerade so wenig im Kalender, und Edith heißt bei uns auch niemand. Es kann auch gar niemand anders sein, als der größere Bub, sie schreibt ja, das Mädchen habe eine Unterkunft gefunden, aber die Buben nicht. So schicken sie halt beide zu uns, das ist eine schöne Bescherung!«
Diesmal war sogar Frau Greiner besorgt, wie das gehen solle, und große Bestürzung herrschte in der Familie. Vater Greiner war ungehalten. »Mir kommt’s auch gar nicht recht vor, wenn man schreibt, man wolle ein Mädchen und man schickt einem dann zwei Buben! Man hätt’s nicht tun sollen, und wenn’s auch meiner Schwester Kinder sind!«
»Wer weiß, ob sie nur Betten mitbringen,« sagte Frau Greiner. »Kinder, da dürft ihr euch schmal machen.«
»Wie heißt der Böse, Mutter?« fragte Marie.
»Soxhlet heißt er.«
»Bei wem schläft der? Vor dem fürcht’ ich mich, gelt, den legst nicht zu mir?«
»Der kommt ja nur für ein paar Wochen,« sagte die Mutter.
»Ja, wenn das nur wahr ist,« sagte Greiner. »Wenn ihn aber niemand abholt, dann bleibt er halt an uns hängen, auf die Straße kannst ihn doch nicht setzen.«
»Du meine Güte, du denkst auch gleich ans Schlimmste,« rief Frau Greiner. »Das wär doch gar zu arg. Es ist schon der Kleine schlimm, der schreit noch bei Tag und Nacht, und das ist noch das ärgste, wenn man nicht einmal seine paar Stunden Nachtruh’ hat. Aber auch noch so einen Wilden dazu, der die Sägspäne verstreut oder deine Köpfe umstößt, so einen können wir nicht brauchen. Weißt noch, wie der Lehrer einmal so Kostbuben gehabt hat? Gleich ist der eine zum Täuflingsmacher und hat das Papiermasché umgeworfen! Jetzt rechne nur einmal die Kosten!«
»Sie schreibt doch etwas vom abtelegraphieren; kann man das nicht telegraphieren, daß sie den Soxhlet nicht mitbringen sollen?«
»Wenn’s halt nicht recht teuer ist, so ein Telegramm nach Köln.«
»Man könnt’ ja fragen, was es kostet.«
»Jedes Wort wird da gerechnet, bis du nur überschreibst: an Fräulein Elisabeth Moll in Köln am Rhein, äußere Ringstraße Nr. 5, hast schon – zähl’ einmal – hast schon zehn Wörter und steht noch nichts vom Soxhlet darin. Dann, so barsch möcht’ ich auch nicht sein, daß ich nur schreibe, sie sollen ihn nicht mitbringen, man müßt’ doch auch erklären, warum. Wieviel gäb’ das Wörter! Das geht nicht in ein Telegramm.«
»Und zum Brief ist’s zu spät?«
»Ja, zu spät.«
Jetzt wurde es ganz still im Zimmer. Vater Greiner bückte sich wieder über seine Arbeit wie immer, nur sah sein abgemagertes Gesicht noch sorgenvoller aus, als sonst, und auch Frau Greiner hatte nicht ihren gewohnten fröhlichen Ausdruck. Marie hatte sich gefreut auf die Genossin, nun kamen statt ihrer kleine Buben, von denen hatte sie schon vorher genug. So machte auch sie ein betrübtes Gesicht, während sie die Puppenbälge mit Sägspänen ausstopfte, und es lag eine rechte Mißstimmung über der ganzen Familie. Aber nach einem kleinen Weilchen erschien schon wieder ein heiterer Zug auf dem Gesicht von Frau Greiner, und indem sie nach ihrem Mann hinsah, sagte sie: »So hat dich wohl niemand genannt, ›mein Herr Gemahl!‹« und sie lachte und die Kinder auch. »Was wohl das Fräulein, wenn sie kommt, für Augen macht, wenn sie meinen Herrn Gemahl sieht in seinem großen Schurz voll Papiermaschétropfen und in seinem verflickten Kittel? Ich meine, die stellen sich alles viel nobler bei uns vor, weil sie doch auch immer an den Herrn Fabrikbesitzer schreiben. Die denkt nicht, daß du nur ein Drücker bist und bei uns alles so armselig ist.«
Ja, damit hatte Frau Greiner richtig geraten. Fräulein Elisabeth Moll, die seit einem Jahr in der Familie Langbeck treue Dienste leistete, hatte sich eine ganz falsche Vorstellung von der Familie Greiner gemacht. Frau Langbeck hatte von ihren Verwandten in Thüringen nur einmal gesprochen. »Mein Bruder,« hatte sie gesagt, »verfertigt solche Puppen, wie Edith hier eine hat. Auch mein Vater hat sich schon damit abgegeben.« Da nun Herr Langbeck Besitzer einer großen Fabrik war, so hatte sich das Fräulein unwillkürlich Herrn Greiner als den Besitzer einer eben so großen Puppenfabrik vorgestellt, und weil in der Familie Langbeck alles hübsch und vornehm eingerichtet war, so machte sie sich auch vom Haus Greiner ein solches Bild. Sie war es, die den Vormund auf diesen Bruder der Frau, auf den Fabrikbesitzer Greiner, aufmerksam gemacht hatte. Der Vormund fühlte sich sehr erleichtert, als sich eine anscheinend so günstige Aussicht für einen seiner kleinen Pflegebefohlenen eröffnete. Er war nicht allzu gewissenhaft, hielt es nicht für nötig, sich näher nach den Thüringer Verwandten zu erkundigen, noch auch mit ihnen persönlich in Briefwechsel zu treten. Im Vertrauen auf das bewährte Kinderfräulein beauftragte er dieses, bei der Familie Greiner anzufragen, und als kein absagendes Telegramm eintraf, wurden die Reisevorbereitungen getroffen.
In einen Reisekoffer packte das Fräulein die ganze niedliche Aussteuer des Kindes: all die spitzenbesetzten Hemdchen, die gestickten Kleidchen und die feine Bettwäsche. Den Kleinen kleidete sie mit besonderer Sorgfalt an, damit er den Verwandten einen guten Eindruck mache. In den Güterwagen wurde des kleinen Reisenden Korbwagen gestellt, daß er bei Ankunft in Thüringen sein gewohntes Bett gleich fände. So trat das junge Mädchen die Reise an, froh, das Haus verlassen zu dürfen, dessen Zusammenbruch sie miterlebt hatte, und in der besten Zuversicht, für ihr geliebtes Pflegekind treu gesorgt zu haben.
Der kleine Alex lachte fröhlich, als die Fahrt begann. Er wußte