Punkt - Punkt - Sommer - Strich. Roy Jacobsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711451953
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      Ich verlasse das Kunstwerk und gehe in die Küche hinunter. Mein Nachbar und ich machen uns miteinander bekannt.

      »Du bist Schriftsteller, nicht wahr?«

      »Ja.«

      »Ja, ich habe ein Foto von dir in der Zeitung gesehen. Und jetzt schreibst du wohl einen Kriminalroman, oder?«

      »Nein, ich kann Kriminalromane nicht ausstehen. Ich sitze an einer Art Liebesgeschichte, die im Moment stekkengeblieben ist. Setz dich, dann hole ich dir eine Tasse.«

      »Und was ist das für ein Gerede über einen Mord?«

      »Das hat uns der Makler erzählt. Aber als wir heute angerufen haben, wollte er plötzlich nicht mehr verraten. Wem gehört dieses Haus eigentlich?«

      »Ursprünglich hat es einer alten Kapitänsfamilie gehört, Schou-Nilsens, aber aufgrund von Erbschaftsstreitigkeiten hat die Familie beschlossen, es von einem Anwalt verwalten zu lassen, ich glaube, zusammen mit Aktien und anderem, was sie nicht aufteilen konnten. Ich kenne sie nicht, aber solange wir herkommen, wird dieses Haus schon vermietet.«

      »Und der Makler hat die Mordgeschichte erfunden, um das Haus attraktiv zu machen?«

      »Vielleicht«, lacht mein neuer Nachbar. »Hier sind im Laufe der Jahre viele komische Vögel gewesen, Künstler, exzentrische Typen.«

      »Ach ja? Und was machst du so?«

      »Ich habe eine kleine Firma, die Spielgeräte herstellt, Schaukeln und Rutschbahnen und so, für Kindergärten in der Umgebung. Ich nehme im Sommerhalbjahr meinen Computer mit hierher, zeichne und konstruiere und mache meine Arbeit, und die Familie hat dann auch Ferien. Hast du Kinder?«

      »Ja, einen Jungen von zwölf und ein Mädchen von fünfzehn.«

      »Schön, schick sie rüber, ich habe drei ungefähr im selben Alter. Ihr braucht bloß durch das Loch in der Hecke zu kriechen, dann geht der Weg nach unten, wir wohnen im ersten roten Haus am Strand.«

      »Schön. Aber über diese Mordgeschichte weißt du also nichts?«

      »Nein, aber die kann auch schon hundert Jahre her sein. Möchtest du, daß hier ein Mord begangen worden ist?«

      »Nein, nein, um Himmels willen.«

      Aus irgendeinem Grunde hat mein sonst so friedliches, literarisches Inneres im Laufe dieser nichtssagenden Unterhaltung eine ziemliche Erregung entwickelt. Und nachdem der Typ weg ist, nachdem wir uns noch einmal versprochen haben, Kinder auszutauschen, und uns auch angelächelt haben, greife ich zum Telefon und habe gleich den Makler an der Strippe.

      »Meine Frau hat Sie vorhin angerufen.«

      »Ja.«

      »Und Sie wollten ihr nichts über die Morde erzählen, die Sie uns versprochen haben.«

      »He, das war nur einer. Nein, ich hatte Angst, sie zu erschrecken, sie wirkte eigentlich ein bißchen ... tja ...«

      »Dann erzählen Sie’s mir.«

      »Na gut ...«

      Mir ging auf, daß ich etwas tat, was ich gar nicht wollte. Schon längst, ehe die Geschichte kam, wußte ich, daß ich sie nicht hören wollte, die Geschichte, die hier folgt, über die Familie Schou-Nilsen, einen pensionierten Kapitän, seine Frau und deren Schwester, die hier in den Jahren nach dem Krieg wohnten, eine anständige Familie mit Geld und hohem Ansehen. Dann verschwand plötzlich die Schwester der Frau. Der Kapitän erzählte Nachbarn und Bekannten, sie sei in ihren Geburtsort in Westnorwegen zurückgezogen. In den folgenden Jahren geschah jedoch etwas mit den beiden Übriggebliebenen: Sie gingen Nachbarn und Bekannten aus dem Weg, sie alterten merklich, und 1966 zog die Frau in ein Pflegeheim in Oslo, während der Mann hier wohnen blieb. Er, der früher ein hochgewachsener Kapitän gewesen war, extravertiert und aktiv im Dorfleben, war nun verwandelt in einen seltsamen und eigenbrötlerischen Einsiedler. Er besuchte seine Frau auch nie und ging nicht einmal zu ihrer Beerdigung, als sie ein Jahr später starb. Er ließ sich vom Kaufmann bringen, was er an Lebensmitteln und Brennholz brauchte, ließ es vor seiner Haustür abladen und hielt sich ansonsten im Haus auf. Dann bekam der Kaufmann keine Anrufe mehr, zehn Tage lang nicht; er benachrichtigte die Polizei, und die fand den Kapitän an einem Deckenbalken im Wohnzimmer ... Als mir der Makler das erzählte, blickte ich zu den Deckenbalken hoch, suchte mir den aus, den ich für den richtigen hielt, und fragte:

      »Und dann fanden sie einen Brief, in dem er den Mord an seiner Schwägerin zugab? Sie haben im Keller gegraben und die Leiche gefunden?«

      »Nicht im Keller, sondern im Garten, unten in dem spitzen Winkel zwischen der Hecke und dem letzten Apfelbaum. Sie war auch nicht auf eine Weise getötet worden, die ... na ja, die zu diesen Leuten paßte ... sie war zersägt worden, quer durch den Magen.«

      »Du meine Güte. Wann ist das passiert?«

      »Der Mord? 1964, wenn ich mich nicht irre. Der Kapitän hat sich ... 1967, glaube ich, aufgehängt.«

      »Also haben wir es vielleicht mit einem Eifersuchtsdrama zu tun?«

      »Keine Ahnung. Ich glaube nicht, daß bei den Ermittlungen irgend etwas herausgekommen ist. Es kann sich auch um Geld gedreht haben, aber sie hätten wirklich anderes gehabt, um das sie sich hätten streiten können. Geerbt haben die drei Neffen des Kapitäns und ihre Familien, und denen gehört das Grundstück noch heute.«

      »Und Sie verwalten es seither?«

      »Ja.«

      »Heißen diese Neffen auch Schou-Nilsen?«

      »Nein, Rosenquist, alle drei wohnen in Kristiansand.«

      »Und mehr wissen Sie wirklich nicht?«

      »Nein, ist das nicht genug?«

      »Doch, vielleicht.«

      Ich bedankte mich für die Auskünfte, hörte ihn lachen und mir noch dazu einen »schönen Sommer« wünschen und legte auf. Und was machte ich dann wohl? Jawohl, der Mann, der keine Mordgeschichte hören wollte, aus Angst, darin verwickelt zu werden, geht aus dem Haus, in den Garten, hinter den letzten Apfelbaum (nicht mehr als zwanzig Meter vom Loch in der Hecke entfernt, das mein lieber Nachbar und Konstrukteur von Spielgeräten erst kürzlich beschrieben hat), und dort sehe ich – nichts. Nicht der geringste Hinweis auf einen Menschen in zwei Teilen, ein Grab, ein Drama, ein Rätsel. Ich sehe etwas zu hohes Gras über einer ebenen Fläche, einige Butterblumen, und über mir singt eine ausgelassene Lerche. Das ist alles. Ich sehe Vergessen. Aber in meinem Kopf gibt es kein Vergessen, dort regiert eine alte Geschichte in neuer Umgebung, angetrieben von Neugier, Resignation und Gedanken, die, das weiß ich, alle weitere Arbeit an einem elenden Roman mit genialem Abschluß stören werden.

      Irritiert gehe ich zum Haus zurück, setze mich in die Küche und denke – mehr gibt meine Phantasie nicht her –, daß Kapitän Schou-Nilsen ein Verhältnis mit seiner Schwägerin gehabt haben muß, daß seine Frau davon Wind bekam und ihre Schwester umbrachte. Der Mann half ihr dann, sich der Leiche zu entledigen. Die Reue, oder vielleicht ganz einfach die Tragödie, hatten seine Frau dann gebrochen. Danach kam es auch bei ihm zum Zusammenbruch, wie eine schlimme Geschichte ja eigentlich alle ungestraften Täter zusammenbrechen lassen sollte. So weit reicht meine Phantasie. Die Frage, warum die Leiche dann zersägt wurde, stelle ich mir nicht, doch, ich stelle sie mir wohl. Aber die Antwort, die ich zustande bringe, ist keine bessere als die Theorie, daß es im Boden so viele Wurzeln gegeben haben muß, daß die Betreffende eben zersägt werden mußte, und das reicht ja nicht, nicht einmal für einen, der keine Kriminalromane mag. Und warum reicht sie nicht? Weil sie sie an einer Stelle mit weniger Wurzeln hätten vergraben können, das Grundstück mißt nämlich mehr als vier Dekar und wird auf allen Seiten von einer dichten Hecke vor neugierigen Blicken geschützt. Meine nächste Hypothese ist, daß der Mörder einen ungewöhnlich bestialischen Charakter gehabt haben muß, er muß es genossen haben, sein Opfer zu zersägen. Aber auch dieser Gedanke kann mich nicht weiter beruhigen; was ich über die Familie Schou-Nilsen weiß, und das ist nicht viel, sagt mir nämlich, daß der Mord nicht den Höhepunkt eines