Lammers! Natürlich! Wie konnte es anders sein?
Einen Moment lang dachte Felicitas über die richtige Strategie nach.
»Stimmt das?«, wandte sie sich freundlich an Elias.
Angestrengt starrte der Junge in sein Buch und nickte kaum merklich.
Obwohl sich Fee wieder einmal maßlos über ihren ungehobelten Stellvertreter ärgerte, wurde das Lächeln auf ihren Lippen tiefer. Ihre jahrelange Erfahrung mit Kindern kam ihr ebenso zugute wie ihre psychologischen Kenntnisse. Es hatte keinen Sinn, Kindern Lügen aufzutischen. Deshalb entschied sie sich für die Wahrheit.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie sanft.
Wieder nickte Elias, und sie setzte sich auf die Bettkante.
»Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?«
Diesmal erntete sie einen schüchternen Blick. Und sogar Annabelle spitzte die Ohren.
»Was denn für eins?«
»Als ich Dr. Lammers zum ersten Mal gesehen habe, fand ich ihn auch ziemlich komisch. Bis ich ihn besser kennengelernt und festgestellt habe, dass er es gar nicht so meint.«
»Warum ist er dann so ätzend?«
»Elias!«, tadelte Annabelle die Wortwahl ihres Sohnes.
Doch Felicitas winkte ab.
»Du hast schon recht. Und ehrlich gesagt habe ich noch nicht herausgefunden, warum er so ist. Ich denke, es liegt daran, dass er nicht gelernt hat, wie man Freunde findet.«
Elias Augen wurden groß und rund.
»Er hat keine Freunde? Keinen einzigen?«
Bedauernd schüttelte Fee den Kopf.
»So viel ich weiß nicht. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm für ihn, weil er deshalb sehr viel Zeit hat, sich mit seiner Arbeit zu beschäftigen. Und ich kann dir eines versprechen: Dr. Lammers ist der beste Kinderchirurg, den ich jemals kennengelernt habe.«
Diese Worte ließ sich Elias durch den Kopf gehen. Annabelle hielt die Luft an. Würde es der Ärztin gelingen, ihren Sohn umzustimmen?
»Aber er war gemein zu mir.«
Wortlos schüttelte seine Mutter den Kopf. Mit einem Ruck zog sie den Reißverschluss der Tasche zu.
Doch Felicitas wollte noch nicht aufgeben. Einen Trumpf hatte sie noch im Ärmel.
»Soll Dr. Lammers dein Freund werden oder dein Bein gesund machen?«, stellte sie die alles entscheidende Frage.
»Der und mein Freund? Niemals!«, schnaubte Elias verächtlich. »Ich will, dass er mein Bein gesund macht, damit ich endlich mit meinen Freunden Fußball spielen kann und nicht immer nur im Tor stehen muss.«
Fee lachte und erhob sich von der Bettkante.
»Siehst du, dafür ist Dr. Lammers genau der Richtige«, erklärte sie innig. »Aber damit er dich gesund machen kann, muss er dich untersuchen. Darf er das? Auch wenn er nicht dein Freund werden will?«
Elias sah hinüber zu seiner Mutter. Annabelle verstand die stumme Frage und nickte ihm zu.
»Also gut«, erwiderte er gedehnt.
Felicitas lächelte.
»Ich wusste von Anfang an, dass du ein schlauer Junge bist.« Zufrieden tippte sie ihm auf die Nase, ehe sie das Zimmer mit dem Versprechen verließ, so schnell wie möglich und in Begleitung von Volker Lammers zurückzukehren. Wie sie das anstellen sollte, davon hatte sie allerdings noch keinen blassen Schimmer.
*
In ihr Lehrbuch vertieft betrat Schwester Elena an diesem Morgen die Behnisch-Klinik.
»Haftung bedeutet: Individuen müssen für die Folgen ihres Handelns oder Nicht-Handelns die Verantwortung tragen.« Sie war so vertieft in die Wiederholung ihres Prüfungsstoffes, dass sie Matthias Weigand nicht bemerkte, der sich zu ihr gesellte und den Flur mit ihr hinunterwanderte. »Grundvoraussetzung der Haftung ist, dass durch die Handlung oder Unterlassung immaterielle oder materielle Schäden entstanden sind. Die Konsequenzen können sowohl zivilrechtlich …«
Matthias beschloss, dem Selbstgespräch ein Ende zu bereiten.
»Seit wann müssen Kindergärtner denn so was wissen?«, fiel er ihr ins Wort.
Vor Schreck schrie Elena auf und ließ das Buch fallen. Matthias schnitt eine Grimasse.
»Du liebe Zeit. Ich wusste nicht, dass sich meine Wirkung auf Frauen so dramatisch verändert hat.« Er bückte sich nach dem Buch und hielt es ihr hin.
»Kein Wunder, dass keine länger als vier Wochen bei dir bleibt«, schnaubte Elena und riss ihm das Lehrwerk aus der Hand. »Und woher hast du das mit der Kindergärtnerin?«
»Die Klinik-Flüsterpost hat mir verraten, dass Lammers dich so nennt«, gestand er. »Ich fand das witzig.«
»Einen seltsamen Sinn für Humor hast du.« Elena packte das Buch in ihre Tasche und ging weiter.
Auch Matthias setzte sich wieder in Bewegung.
»Komm schon! Sei nicht sauer! Als Wiedergutmachung biete ich dir an, dich abzufragen.«
Elenas Miene erhellte sich. Ganz offensichtlich ahnte ihre Freund und Kollege nicht, was er da gesagt hatte.
»Könnte durchaus sein, dass ich auf dein großzügiges Angebot zurückkomme«, erwiderte sie, ehe sich ihre Wege an einer Glastür trennten. Elena bog nach rechts ab, Matthias musste den linken Flur wählen.
Auf dem Weg in die Notaufnahme kam er an einem Aufenthaltsraum vorbei. Die Tür stand halb offen, und er war schon vorbeiegangen, als er stutzte. Er sah auf seine Armbanduhr und kehrte noch einmal zurück.
»Sophie, was machen Sie denn schon hier?«
»Nach was sieht es denn aus?«, fragte sie, ohne sich ablenken zu lassen. Sie saß am Tisch vor einem Laptop und studierte einen Text.
Matthias Weigand überlegte nicht lange und trat hinter sie.
»Dachte ich es mir doch.«
Sophie seufzte.
»Bettina Lücke lässt mir keine Ruhe. Sie hatte heute Nacht einen Schub. Und ehrlich gesagt bin ich nicht Ärztin geworden, um die Hände in den Schoß zu legen und tatenlos dabei zuzusehen, wie meine Patienten leiden.«
»Das verlangt ja auch keiner von Ihnen.«
»Dr. Norden verlangt es«, behauptete sie trotzig und klickte zur nächsten Seite.
Matthias schob die Hände in die Jackentasche und lächelte.
»Dummerweise scheinen Sie vergessen zu haben, dass ich bei dem Gespräch dabei war«, erinnerte er sie. »Er hat Ihnen lediglich ans Herz gelegt, sich an die konventionellen Methoden zu halten und der Patientin keine unbegründete Hoffnung zu machen.« Er dachte kurz nach. »Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass neue Medikamente und Behandlungsmethoden immer schneller zugelassen werden und auf den Markt kommen, ohne dass ihre Sicherheit und Zuverlässigkeit ausreichend geprüft wäre. Diese Beschleunigung ist von der Industrie gewollt und wird sogar teilweise gefördert. Deshalb befinden wir Mediziner uns im Blindflug, weil wir keine Einsichten über die Wirksamkeit und den richtigen Einsatz haben.« Oft genug hatte Matthias Weigand mit Daniel Norden über dieses Thema diskutiert, dass er seinen Standpunkt kannte und vertreten konnte.
Sophie versetzte dem drehstuhl einen Schub und fuhr zu ihrem Kollegen herum. Ihre Augen schossen wütende Blitze.
»Wenn jeder Arzt solche verstaubten Ansichten hätte, würde die Forschung niemals Fortschritte machen.«
Ein belustigtes Lächeln spielte um Matthias Weigands Lippen. Schon jetzt freute er sich auf das Gesicht seines Freundes, wenn er ihm von diesem Gespräch erzählte.
»Ihr