»So könnte man es auch sagen.« Matthias reichte Daniel den Befund.
»Wer ist das?«
»Bettina Lücke – 28 Jahre alt. Sie wurde zusammen mit den Brandopfern mit Verdacht auf eine Rauchvergiftung eingeliefert.«
Betroffen starrte Daniel Norden auf den Befund und dann wieder auf den Monitor mit den Aufnahmen aus dem MRT.
»Dann werden wir die Botschaft mal überbringen«, seufzte er schließlich.
»Ich komme mit«, erklärte Matthias und stemmte sich aus dem Stuhl hoch.
Auf dem Flur begegnete ihnen Sophie Petzold, die von Christine Lekutats Patient kam.
»Gut, dass Sie hier sind.« Ohne innezuhalten, winkte Daniel sie mit sich. »Wir sind auf dem Weg zu Frau Lücke. Sie …«
»Oh, Frau Lücke!« Sofort schloss sich Sophie den beiden Ärzten an. »Bettina ist eine sehr nette Frau. Stellen Sie sich vor, wir haben das gleiche Hobby. Sie reitet auch für ihr Leben gern. Und das, obwohl es ihr schon eine ganze Weile nicht mehr gut geht. Sie ist wirklich tapfer.« Sophie bemerkte die ernsten Blicke der Kollegen und hielt inne. »Es ist doch nichts Schlimmes?«
»Kommt darauf an.« Mehr sagte Dr. Norden nicht.
Vor dem Krankenzimmer angekommen, blieben sie stehen. Stimmen waren zu hören.
»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz«, beschwor Ralf Lücke seine Frau. »Sie haben bestimmt nichts Schlimmes gefunden.«
Bettina hob die Hand und winkte müde ab.
»Egal, was passiert. Ich möchte …«
Als es klopfte, hielt sie inne. Bei Sophies Anblick huschte ein Lächeln über ihr eingefallens Gesicht.
»Schön, dass du da bist«, begrüßte sie die Assistenzärztin wie eine alte Freundin. »Das ist Ralf, mein Mann. Er hat mein Handy mitgebracht. Jetzt kann ich dir Fotos von Cherry Blossom zeigen.«
Während Matthias die Patientin im Nachbarbett bat, das Zimmer kurz zu verlassen, trat Dr. Norden zu Bettina Lücke.
Ralf musterte den Klinikchef argwöhnisch.
»Es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«
»Leider nein.«
Auch Sophie horchte auf.
»Was fehlt Bettina?«, fragte Ralf Lücke erschrocken.
»Haben Sie den Namen ›Morbus Crohn‹ schon einmal gehört?«, wandte sich Daniel an die Patientin.
»Nein, nie.« Sie schüttelte den Kopf.
»Bei Morbus Crohn handelt es sich um eine chronische Entzündung des Verdauungstraktes. Sie verläuft meist in Schüben«, griff Sophie Petzold ihrem Chef vor.
»Aber was hat der Husten damit zu tun?« Bettina Lücke sah von einem zum anderen.
»Bei einer Studie wurde vor ein paar Jahren ein Zusammenhang zwischen Atemwegserkrankungen und der Häufigkeit von Darmerkrankungen untersucht«, erläuterte Dr. Norden. »Bei COPD-Patienten tritt Morbus Crohn zu 55 Prozent häufiger auf als bei anderen Patienten.« Er sah Bettina fragend an. »Sind Sie Raucherin?«
»Früher habe ich mal geraucht. Wie das so ist bei jungen Leuten.« Es klang wie eine Entschuldigung.
»Bettina hat schon vor fünf Jahren aufgehört«, versicherte ihr Mann.
Daniel nickte.
»Um die 90 Prozent der COPD-Erkrankten sind aktive Raucher oder haben schon einmal geraucht.«
»Übrigens ist COPD Englisch und bedeutet übersetzt chronischobstruktive Lungenerkrankung«, nahm Sophie Petzold ihrem Chef erneut das Wort aus dem Mund.
Sein strafender Blick gebot ihr Einhalt.
»Wie schlimm ist der Husten denn? Und wie lange leiden Sie schon darunter?«, wollte er von der Patientin wissen.
Bettina dachte kurz nach.
»Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wann das losging. Das muss schon ein paar Jahre her sein.«
»Als ich dich kennengelernt habe, hattest du gerade einen Allergietest hinter dir«, erinnerte sich Ralf.
»Stimmt.« Bettina schickte ihrem Mann ein zärtliches Lächeln. »Nachdem nichts dabei herauskam, habe ich mich damit abgefunden, immer mal wieder zu husten. Richtig nervig ist es eigentlich erst mit den Bauchschmerzen geworden.«
»Manchmal braucht es keine Studie, um Zusammenhänge festzustellen«, bemerkte Matthias Weigand.
Bettina und Ralf tauschten nachdenkliche Blicke.
»Das ist ja alles schön und gut. Aber was bedeutet das alles jetzt für mich?«, stellte sie eine berechtigte Frage.
Diesmal ließ Daniel Norden der Assistenzärztin den Vortritt. Sophie verstand die stumme Aufforderung.
»Das größere Problem ist der Morbus Crohn. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Krankheit mit ihren typischen Beschwerden wie Durchfall und krampfartigen Bauchschmerzen.« Sie fing den Blick des Klinikchefs auf. Er nickte ihr zufrieden zu. Doch Sophie war noch nicht fertig. »Aber es gibt ein Verfahren, das die Symptome deutlich lindern kann. Ein amerikanischer Professor hat im Studium davon erz …«
Weiter kam sie nicht.
»Bevor wir über eine weiterführende Therapie nachdenken, versuchen wir es zunächst mit den konventionellen Methoden«, unterbrach Dr. Weigand die übereifrige junge Kollegin schnell. »Zunächst einmal behandeln wir mit Medikamenten gegen den Durchfall und Entzündungshemmern. Hier stehen uns zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung. Außerdem spielt die Ernährung eine wichtige Rolle.«
»Und wenn das alles nicht hilft?«, fragte Ralf mit bangem Herzen.
»Dann bleibt immer noch eine Operation. Aber bis dahin ist noch viel Zeit«, versprach Daniel Norden und nickte Bettina Lücke aufmunternd zu. »Wichtig ist jetzt, dass Sie die Flinte nicht ins Korn werfen. Damit das nicht passiert, schicke ich Ihnen Herrn Dr. Kranz. Er ist Psychologe an unserer Klinik und steht Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.«
Bettina biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts. Auch wenn es ein Grund zur Freude war, dass sie nicht an Darmkrebs litt, musste sie die Neuigkeit erst einmal verdauen.
*
Über ihre Unterlagen gebeugt saß Schwester Elena im Schwesternzimmer. Wie jede freie Minute in letzter Zeit nutzte sie auch diese Pause, um sich auf die Prüfung zur Pflegedienstleitung vorzubereiten. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie Dr. Lammers’ Stimme zwar hörte, seine Worte aber nicht auf sich bezog, sondern auf Schwester Julia, die Verbandmaterial in einen Schrank räumte.
»Hören Sie schlecht oder reden Sie neuerdings nicht mehr mit jedem?«
Die laute Stimme direkt neben ihrem Ohr ließ sie vor Schreck zusammenzucken. Sie starrte Lammers an und presste die Hand auf das wild schlagende Herz.
»Was fällt Ihnen ein? Ich habe Pause und muss für meine Prüfung lernen.«
»Keine Angst. Die Qualifikation für die Kindergärtnerin attestiere ich Ihnen. Im Übrigen ist Ihre Pause vorbei.«
Elena sah auf die Uhr über der Tür.
»Das stimmt nicht. Ich habe noch …«
»Wenn ich sage, dass Ihre Pause vorbei ist, dann ist das so!«, unterbrach er sie und klatschte eine Patientenakte auf den Tisch. »Gehen Sie schon mal vor. Ich bin in fünf Minuten bei der kleinen Rotznase.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Lammers ab und rauschte aus dem Zimmer.
Die junge Lernschwester sah ihm mit offenem Mund nach.
»Das lassen Sie sich doch hoffentlich nicht gefallen.«
Elena starrte ihm nach. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. Sie klappte