»Tut mir leid, dass ich Sie störe, Chef«, entschuldigte sich Andrea Sander aufrichtig. »Aber Dr. Lammers ist heute schon zum zweiten Mal hier. Er sagt, es sei wichtig.«
»Ist es das bei ihm nicht immer?« Daniel schnitt eine Grimasse. »Dann wollen wir ihn nicht länger auf die Folter spannen. Herein mit ihm.«
Entschieden griff Daniel wieder zu seinem verspäteten Mittagessen und biss in das knackige Brötchen. Andrea unterdrückte ein herzhaftes Lachen und bat den Kinderchirurgen herein.
Dir wird der Appetit gleich vergehen!, schoss es Volker beim Anblick des Chefs durch den Kopf.
»Guten Appetit«, wünschte er scheinheilig. »Lassen Sie es sich schmecken.« Als er das Büro durchquerte, warf er einen Blick auf den Schreibtisch. Dort lag gut sichtbar das Kuvert des Forschungsinstituts. Um ein Haar hätte Volker Lammers laut aufgelacht. Die Schlinge um Nordens Hals hatte sich zugezogen. Er wusste es nur noch nicht.
Statt einer Antwort nickte Daniel mit vollen Backen. Mit einer Geste bot er Lammers den Sessel gegenüber an. Während er ihm dabei zusah, wie er sich setzte, trank er einen Schluck Wasser.
»Was kann ich für Sie tun, Kollege Lammers?« Seine Ahnungslosigkeit war geheuchelt.
»Ich war vorhin bei dem kleinen Kronseder. Es geht ihm viel besser als noch heute früh.«
Daniel stellte das Glas zurück auf den Tisch.
»Hoffentlich haben Sie sich ebenso darüber gefreut wie ich.«
»Natürlich.« Lammers bleckte die Zähne. »Ich frage mich nur, wie das sein kann. Heute Morgen war der Bengel dem Tod noch näher als dem Leben. Und jetzt …« Er machte eine kunstvolle Pause. Doch nicht das kleinste Zucken in Dr. Nordens Gesicht verriet seine Gedanken. »Was haben Sie ihm gegeben?«
Es gab vielfältige Gründe, warum Daniel Norden Chefarzt der Behnisch-Klinik geworden war. Einer davon war sein scharfer Verstand. Er durchschaute Lammers’ Absicht sofort.
»Spielt das eine Rolle? Hauptsache, es geht dem Kleinen besser.«
Volker Lammers wähnte sich auf der Zielgeraden. Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, sprang er auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.
Mit gerunzelter Stirn sah Dr. Norden ihm dabei zu. Endlich blieb Lammers stehen. Er nahm seinen Chef ins Visier.
»Sie haben dem Jungen tatsächlich ein Mittel verabreicht, das noch nicht einmal an Menschen getestet wurde?«
»Haben Sie mir nicht selbst dazu geraten?«, stellte Daniel eine berechtigte Gegenfrage.
»Ja, schon. Aber ich habe mich noch einmal gründlich informiert. Tatsächlich ist das neue Mittel noch lange nicht so weit, dass man es beim Menschen einsetzen könnte.« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Deshalb muss ich meine Empfehlung leider zurückziehen und Ihnen recht geben. Es ist unverantwortlich, dieses Medikament einzusetzen. Wenn Sie das wirklich getan haben, könnte Sie das den Kopf kosten.« Dieser kleine Nachsatz war einer zu viel. Im Überschwang der Gefühle hatte Volker seine wahren Absichten verraten.
Doch Dr. Norden verzog keine Miene. Nachdem Lammers geendet hatte, herrschte tiefes Schweigen im Büro. Aus dem Vorzimmer klang Frau Sanders Stimme zu ihnen herüber. Offenbar telefonierte sie. Als sie geendet hatte, war alles still. Volker wurde nervös.
»Warum haben Sie nicht besser recherchiert?«, fragte er.
Endlich brach Daniel sein Schweigen und erhob sich.
»Wie oft haben Sie schon Grenzen überschritten, um Patienten zu helfen?«, stellte er eine Gegenfrage. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ich habe zu tun.«
Trotz seines Siegs war Lammers’ Blick voller Hass, als er an seinem Chef vorbei aus dem Zimmer stürmte. Der Rauswurf war schwer zu verkraften.
Kopfschüttelnd kehrte Daniel in die Besucherecke zurück, um wenigstens das Sandwich aufzuessen. Er wollte gerade einen wohlverdienten Bissen tun, als Andrea Sander den Kopf hereinsteckte.
»Was haben Sie denn mit Lammers angestellt? Normalerweise ist es mein Job, ihn zur Weißglut zu treiben.«
»Offenbar habe ich ungeahnte Qualitäten«, schmunzelte Dr. Norden, ehe er sich einen herzhaften Bissen Brötchen gönnte.
*
In Leonie Jürgens’ Leben kam es nicht oft vor, dass sich ein Tag wie Kaugummi in die Länge zog. Doch an diesem Dienstag ertappte sie sich mehrmals dabei, wie sie auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch starrte.
»Noch so früh! Das kann doch nicht wahr sein!«, seufzte sie jedes Mal vor sich hin.
Doch endlich war es so weit, und am Ende musste sie sich sogar beeilen, um nicht zu spät zu ihrer Verabredung mit dem faszinierenden Moritz zu kommen. Er wartete schon vor der Tür des kleinen Cafés auf sie, als sie nach langwieriger Parkplatzsuche endlich über die Straße hastete.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin.«
»Kein Problem. Ich hatte nur Angst, du hättest es dir anders überlegt«, gestand Moritz mit entwaffnender Offenheit und hielt ihr die Tür auf.
Ein feiner Duft nach Butter, Zucker und Vanille empfing sie. Das Murmeln der Gäste wurde vom lässigen Barjazz untermalt, den Tatjana so gern auflegte, passte er ihrer Meinung nach doch perfekt zu dem eigenwilligen Ambiente ihres Cafés.
Wie immer, wenn Leonie in diese Welt eintauchte, sah sie sich staunend wie ein Kind um.
»Weißt du, was mich hier immer wieder überrascht?«, wandte sie sich an Moritz.
»Du siehst so aus, als würdest du es mir gleich verraten«, erwiderte er, während er ihr aus dem Mantel half.
»Kein Stück in diesem Raum passt zum anderen. Und in einem anderen Kontext wäre diese gehämmerte Silberdecke ein Albtraum. Aber alles zusammen gesehen ergibt die perfekte Harmonie.«
»Wie bei einem alten Ehepaar.« Moritz lachte, ehe er ihren Mantel zur Garderobe brachte. Es dauerte, bis er sich einen Weg zurück zu Leonie gebahnt hatte. Obwohl das kleine Café in einer Stunde schließen würde, war es um diese Uhrzeit gut besucht. Sie saß inzwischen in der Ecke, die er für sie ausgesucht hatte. »Gefällt dir der Tisch? Ich habe ihn extra für uns reservieren lassen. Es ist mein Lieblingstisch.«
»Ach, dann bist du der Typ, der ihn mir immer vor der Nase wegschnappt?« Leonie lehnte sich zurück und musterte ihn. »Ich hoffe, du bist mit Rotwein und Flammkuchen einverstanden.«
»Ausgezeichnet. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Moritz setzte sich ihr gegenüber.
Nur mit Mühe konnte Leonie ihre Enttäuschung verbergen.
»Du hast heute Abend noch etwas vor?«
»Nein. Aber Frau Bohde schließt das Café um neunzehn Uhr. Und das, obwohl ich sie schon ungefähr hundert Mal gebeten habe, die Öffnungszeiten zu ändern.«
Der Wein wurde serviert. Leonie und Moritz sahen sich tief in die Augen, als sie anstießen.
»Ehrlich gesagt kann ich sie aber verstehen«, fuhr er fort, nachdem sie einen Schluck getrunken hatten. »Ich arbeite selbst in der Gastronomie und weiß, wie anstrengend es sein kann, rund um die Uhr für die Gäste da zu sein.«
Seine Worte hatten Leonie neugierig gemacht.
»Darf ich fragen, womit genau du deine Tage verbringst?«
»Du musst nur in das Hotel kommen, in dem ich arbeite. Dort kannst du mich in Aktion bewundern. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin Assistent der Direktion.«
»Interessant.« Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. In Wahrheit konnte Leonie ihr Glück kaum fassen. Endlich ein Mann vom Fach, der nicht nur die Themen, sondern auch die Arbeitszeiten kannte, die eine Stelle in der Gastronomie mit sich brachte.
»Das