»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie eine grottenschlechte Lügnerin sind?«, fragte er so liebenswürdig wie möglich und verschwand, ohne die Chefsekretärin noch eines Blickes zu würdigen.
Im Gegensatz zu ihr wusste er ganz genau, wo er Dr. Norden suchen musste. Doch er tat es nicht. Für den Moment reichte die Bestätigung, dass ihn seine Ahnung nicht getrogen hatte.
*
Im Laufe des Vormittags erholte sich der kleine Niklas so weit, dass er mit seinem Vater ein wenig Auto spielen konnte. Schweren Herzens hatte sich Magdalena verabschiedet, um sich um die kleine Tochter zu kümmern. Zum Glück war Gregor sein eigener Chef und konnte sich um Niklas kümmern. Vater und Sohn schoben Spielzeugautos über die Bettdecke. Dr. Felicitas Norden, die sich gleich nach ihrer Ankunft in der Klinik auf den Weg zu ihrem Sorgenkind gemacht hatte, hörte die Kinderstimme schon auf dem Flur.
»Tütüüüüt, auf die Seite, Schnittlauch, hier kommst du nicht vorbei«, krähte der kleine Mann.
Gregor blieb der Mund offen stehen vor Staunen.
»Woher hast du denn diesen Ausdruck?«
Niklas kicherte.
»Das sagt Onkel Bert immer, wenn er eine Polizei auf der Straße sieht.«
»Und warum nennt Onkel Bert die Polizei Schnittlauch?«, fragte Gregor forschend weiter. Er ahnte Böses. Obwohl sein Bruder ein paar Jahre älter war als er, hatte er oft Flausen im Kopf.
»Weil Polizisten außen grün sind und innen … innen … « Niklas fiel das Wort nicht mehr ein. »Innen nichts drin ist«, entschied er sich schließlich für eine Umschreibung.
Gregor seufzte.
»Das ist aber nicht nett von Onkel Bert. Das nächste Mal musst du ihn ordentlich schimpfen.«
Zutiefst verwundert stand Fee in der Tür und beobachtete die beiden. Der treuherzige Blick, den Niklas seinem Vater schickte, rührte an ihr Herz.
»Darf ich ihn denn schimpfen?«
»Ausnahmsweise«, lächelte Gregor und streichelte über das weiche Kinderhaar.
Der Moment war günstig, um auf sich aufmerksam zu machen. Felicitas klopfte an die offenstehende Tür und trat ein.
»Na, habt ihr beide schon zu Mittag gegessen?«, fragte sie und deutete auf die beiden Tabletts, die auf dem Tisch standen.
»Oh, nein. Das haben wir total vergessen.« Gregor stand auf und hob den Deckel von einem der Teller.
Fee sah ihm dabei zu, wie er ein Fischstäbchen zerteilte.
»Haben Sie Urlaub genommen, damit Sie bei Ihrem Sohn bleiben können?«, erkundigte sie sich.
Gregor sah hoch und lächelte.
»Das muss ich zum Glück nicht. Ich bin selbstständig und verkaufe Verschleißteile für Kieswerke. Wenn ich nicht da bin, bleibt das Geschäft eben geschlossen.«
»Respekt, dass Sie sich das erlauben können.«
»Noch geht es. Aber ich weiß natürlich nicht, wann die ersten Beschwerden kommen.« Er trug den Teller hinüber ans Bett seines Sohnes und setzte sich auf die Bettkante, um Niklas mit Fischstäbchen und Kartoffelpüree zu füttern. »Ein Glück, dass es Niklas besser geht.«
»Das ist wirklich eine erstaunliche Entwicklung.«
»Was auch immer Herr Dr. Norden gemacht hat … Ich bin ihm unendlich dankbar.«
Fee hatte keine Ahnung, wovon er sprach, ließ sich aber nichts anmerken.
»Darf ich Niklas ganz kurz untersuchen? Es dauert auch nicht lange.«
»Natürlich.« Gregor stellte den Teller zur Seite und stand auf, um Platz zu machen.
Felicitas fühlte Niklas’ Puls, hörte seine Brust ab und kontrollierte die Werte der letzten Blutuntersuchung. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Trotzdem nahm sie Gregor Kronseder zur Seite.
»Im Augenblick scheint es Ihrem Sohn tatsächlich besser zu gehen. Ich möchte Sie nur bitten, nicht zu erschrecken, wenn sich das wieder ändern sollte.« Aus eigener bitterer Erfahrung wusste sie, wie schnell Eltern neue Hoffnung schöpften. Und wie tief der Fall war, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er skeptisch.
»Besonders bei Kindern kommt es manchmal vor, dass sich der Zustand kurzfristig bessert. Leider lässt sich daraus nicht auf die weitere Genesung schließen.«
Gregors Augen wurden schmal.
»Sie gönnen uns den Erfolg nicht, was?«
Diese Worte trafen Fee mitten ins Herz.
»Wenn mir etwas am Herzen liegt, dann ist es jedes Kind, das ich gesund aus dieser Klinik entlassen kann«, erwiderte sie reserviert.
Trotz ihres Ärgers verabschiedete sie sich freundlich von Vater und Sohn, ehe sie sich auf den Weg zu ihrem Mann machte. Was hatte Daniel mit dem Zustand von Niklas Kronseder zu tun?
*
Bei seinem nächsten Besuch in Dieter Fuchs’ Büro nahm Volker Lammers die Bitte des Verwaltungsdirektors ernst. Er meldete sich telefonisch an und traf seinen Verbündeten an einem verschwiegenen Ort.
Fuchs betrachtete ihn mit deutlicher Skepsis im Blick.
»Ich hoffe, du verschwendest meine Zeit nicht.«
»Norden hat angebissen.« Volker Lammers konnte sein Geheimnis nicht länger für sich behalten.
»Woher weißt du das?«
»Heute Vormittag sind ein paar merkwürdige Dinge passiert. Zuerst war der Bote eines Labors bei mir, der sich verlaufen hatte. Er wollte zu Dr. Daniel Norden. Als ich selbst etwa eine halbe Stunde später zum Chef wollte, war er nicht zu sprechen. Daraufhin beschloss ich, dem Bengel einen Besuch abstatten.« Lammers machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Stell dir vor: Die Tür war verriegelt.«
Dieter Fuchs lachte abfällig.
»Tut mir leid. Aber das reicht bei Weitem nicht, um einen Chefarzt loszuwerden.«
Obwohl sich Lammers über die Zweifel seines Kompagnons ärgerte, blieb er unverändert freundlich.
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, beschwor er Fuchs mit erhobenen Händen. »Vorhin habe ich mir den Balg selbst angesehen. Es geht ihm tatsächlich besser. Das ist der Beweis, dass Norden das nicht zugelassene Präparat besorgt und ihm verabreicht hat.«
Nachdenklich wiegte Dieter Fuchs den Kopf. Allmählich gerieten seine Zweifel ins Wanken.
»Du glaubst wirklich, dass er einen Alleingang gewagt hat?«
»Wenn du mir nicht glaubst, kannst du dir Nordens Telefonlisten besorgen. Dann hast du es schwarz auf weiß, dass er mit dem Institut Kontakt aufgenommen hat.«
»Eine gute Idee.« Der Verwaltungsdirektor erhob sich vom Stuhl und begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich blieb er vor Volker Lammers stehen. »Dann fehlt nur noch ein Geständnis«, teilte er ihm das Ergebnis seiner Überlegungen mit.
»Das bekommst du«, versprach der Kinderchirurg und ging zur Tür. »Heute noch.« Damit verließ er das kleine Zimmer im hintersten Eck der Klinik und machte sich auf den Weg zu Dr. Daniel Norden. Nie zuvor hatte er sich mehr auf eine Begegnung ihm gefreut wie in diesem Moment.
*
Zum ersten Mal an diesem ereignisreichen Tag fand Daniel Norden ein paar Minuten Ruhe. Er packte das belegte Brötchen aus, das er bei Lenni im Klinikkiosk erstanden hatte. Seit es im Hause Norden kaum mehr etwas zu tun gab, hatte sich die Haushälterin mit ihrem Lebensgefährten einer neuen Aufgabe verschrieben, und beide halfen immer dann im Kiosk aus, wenn Tatjana keine Zeit hatte.
Daniel