Matthias drehte sich zu der Assistenzärztin um.
»Was ist das denn jetzt? Haben Sie im Medizinstudium nicht gelernt, dass professionelle Distanz überlebenswichtig für den Patienten ist?«, fragte er streng. »Mal abgesehen davon, dass ein Hirnabszess zwar lebensbedrohlich sein kann, aber nicht zwingend in einer Katastrophe enden muss.«
Es war eines der seltenen Male, in denen die Assistenzärztin nicht widersprach.
»Ja, ich weiß«, erwiderte sie kläglich und nahm das Taschentuch, das er ihr hinhielt.
»Schön. Dann sparen Sie sich die Tränen für das Happy-End und kommen Sie mit!«
Matthias ärgerte sich über den weichen Unterton in seiner Stimme, der viel zu viel über seine Gefühle verriet.
Doch Sophie Petzold war zu aufgewühlt, um irgendetwas zu bemerken.
»Alles klar.« Sie putzte sich die Nase, straffte die Schultern und gab sich einen Ruck.
Als sie ein paar Minuten später an der Seite von Dr. Weigand Jakobs Krankenzimmer betrat, war jede Spur der Trauer aus ihrer Miene getilgt.
Jakob hatte es sich im Bett bequem gemacht und blätterte in einer Zeitschrift. Sein erwartungsvoller Blick flog hinüber zu den beiden Ärzten.
»Heute ist Ihr Glückstag! Sie sind die ersten Besucher und haben eine Flasche Wasser gewonnen.«
Normalerweise liebte Sophie den Humor des Pflegers. Doch an diesem Nachmittag verzogen sich ihre Lippen nur zu einem dünnen Lächeln.
Matthias lachte pflichtschuldig und zog sich einen Stuhl heran. Er warf einen Blick auf die Unterlagen in seinen Händen.
»Herr Sperling … oder darf ich Jakob sagen?«
Diese Frage war eine zu viel. Plötzlich lächelte auch Jakob nicht mehr.
»Was ist los?«, fragte er tonlos. »Sagen Sie mir die Wahrheit!«
»Also schön.« Matthias nahm ihn ins Visier. »Sie haben einen Abszess im Gehirn.«
Jakob zog eine Augenbraue hoch.
»Einen Abszess? Bei Ihrem Gesicht hatte ich eher an einen Tumor gedacht. Irgendwas Fieses. Aber ein Abszess?«
Nun musste Sophie doch lächeln. Genauso wie Matthias.
»Vielen Dank für die Blumen. Nichtsdestotrotz ist es nicht so harmlos, wie es klingen mag. Ich will Ihnen nichts vormachen: Ein Hirnabszess kommt zwar nur selten vor, kann aber durchaus lebensbedrohlich werden.«
»Ich weiß, wovon Sie sprechen«, winkte Jakob ab. »Wenn Krankheitserreger in das Hirn gelangen, können Sie eine örtliche Entzündung hervorrufen. Dabei kann sich Eiter in einer Art Kapsel ansammeln und einen neuen Hohlraum bilden, der die Hirnmasse verdrängt, den Fluss des Hirnwassers stört und ein paar andere Kalamitäten mehr.«
Dr. Weigand verdrehte die Augen.
»Meine Güte. Noch einen Besserwisser mehr halte ich nicht aus«, stöhnte er.
»Keine Sorge, die Behandlung überlasse ich Ihnen«, versicherte Jakob. Trotz der gravierenden Diagnose war ihm ein Stein vom Herzen gefallen.
»Sehr freundlich von Ihnen.« Matthias war noch nicht fertig. »In Ihrem Fall hat der Abszess übrigens die Größe eines Wachteleis. Er liegt zentral im Gehirn in einer Tiefe von zwei bis drei Zentimetern«, las er von seinem Tablet ab. »Wir werden noch während der Operation den Bakterienstamm und ein geeignetes Antibiotikum zu seiner Bekämpfung ermitteln. Mit diesem Antibiotikum werden Sie über einen längeren Zeitraum behandelt werden. Nur so kann … «
»… verhindert werden, dass sich ein neuer Abszess bildet«, vollendete Jakob den Satz.
Matthias Weigand räusperte sich.
»Richtig. Ich habe den OP-Termin für heute Nachmittag festgesetzt. Mit etwas Glück haben Sie keine bleibenden Schäden zu befürchten.« Matthias stand auf und blickte auf seinen Patienten hinab. »Nach dem Eingriff werden Sie innerhalb kürzester Zeit wieder ansprechbar sein. Die Frage nach einem Tumor können wir leider erst danach beantworten.« Von seiner Seite aus war für den Moment alles gesagt. »Haben Sie noch Fragen?«
»Kann Frau Petzold noch bleiben?«
Matthias Weigand sah hinüber zu seiner Kollegin. Wie angewurzelt stand sie vor Jakobs Bett und kämpfte schon wieder mit den Tränen.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Es war offensichtlich, dass sie ihren Chef völlig vergessen hatte.
Matthias zögerte kurz, bevor er sich entschied zu schweigen und das Zimmer ohne ein weiteres Wort verließ.
*
Adrian Wiesenstein ging neben Dr. Daniel Norden über den Flur.
»Wer wird an der Operation teilnehmen?«
Darüber hatte auch der Klinikchef schon nachgedacht.
»Dieser Eingriff wird durch die ganze Presse gehen. Die Klinik wird im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen. Deshalb werde ich persönlich die Leitung übernehmen.«
»Ich würde Ihnen gern assistieren.«
Abrupt blieb Daniel stehen und drehte sich zu dem Chirurgen um.
»Sie?« Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Tut mir leid, Kollege Wiesenstein. Nichts gegen Ihre Fähigkeiten als Chirurg. Aber selbst wenn keine emotionale Bindung mehr besteht, glaube ich nicht, dass das eine gute Idee wäre. Ihre Ex-Frau scheint nicht gerade gut auf Sie zu sprechen zu sein …«
»Ich weiß«, winkte Adrian ab. »Das liegt aber nicht an meiner Person. Ich bin Paola völlig egal. Es geht einzig und allein um Joshua. Sie denkt, dass ich ihn beeinflusst habe. Aber das ist nicht richtig.«
»Trotzdem denke ich, dass Sie bei dem Eingriff nicht dabei sein sollten«, beharrte Daniel auf seiner Entscheidung.
Die beiden Männer standen sich auf dem Flur gegenüber. Fieberhaft suchte Adrian nach einem Argument, mit dem er seinen Chef überzeugen konnte.
»Bitte überdenken Sie Ihre Entscheidung noch einmal«, bat er schließlich. »Ich fühle mich verpflichtet, alles für Paola zu tun, was in meiner Macht liegt.«
Daniel musterte seinen Mitarbeiter.
»Schuldgefühle sind ein ganz schlechter Ratgeber«, bemerkte er. »Ich werde Ihnen meine Entscheidung rechtzeitig mitteilen.« Er lauschte auf das Stimmengewirr im Hintergrund. »Und jetzt werde ich mich wohl oder übel der Presse stellen müssen.« Er nickte Adrian Wiesenstein noch einmal zu, ehe er sich abwandte und durch die Glastür trat, hinter der bereits eine Menge Reporter und Fotografen auf ihn wartete. Es war nur dem Verwaltungsdirektor zu verdanken, dass sie die Klinik nicht längst gestürmt hatten.
*
Allmählich wurde es Jakob Sperling doch mulmig zumute. Schwester Elena bereitete ihn auf den bevorstehenden Eingriff vor. Mit einem Ohrthermometer maß sie Fieber.
»Sie sind in Bestform«, lobte sie ihn und notierte den Wert im Patientenblatt.
»Dann kann ich ja an die Arbeit gehen.« Jakob schlug die Bettdecke zurück und gab vor, aufstehen zu wollen.
»Daraus wird leider nichts.« Lächelnd deckte Elena ihn wieder zu. »Weglaufen gilt nicht!« Sie hatte ihre Vorbereitungen beendet. »Dr. Petzold holt Sie gleich ab. Ah, da ist sie schon.«
Doch es war Dr. Daniel Norden, der ins Zimmer kam. Die Klinikpost funktionierte wieder einmal einwandfrei. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte ihm eine Schwester von Jakobs Erkrankung erzählt. Als der Krankenpfleger seinen Chef erblickte, schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe. Ich sollte der netten Frau Wolter Bescheid sagen wegen ihres Enkels.«
Leise verließ Schwester Elena das Zimmer. Daniel ließ sich nicht davon stören.
»In