„War schön, Sie zu sehen“, sagt er, als ich gerade an ihm vorbeigelaufen bin.
Ich drehe mich um.
„Ebenso.“
„Wir sehen uns bald wieder.“
War das eine Aufforderung? Ein Wunsch von seiner Seite, mir in diesem Rahmen wieder zu begegnen?
Auf dem Heimweg habe ich eine ungewohnte Energie. Die Fahrradtour fühlt sich kürzer an als sonst. Es nieselt, aber es macht mir nichts aus. Ich grüße alle mir entgegenkommenden Fahrradfahrer, und lasse andere vor, wenn ich die Straße überqueren muss. Mein Rock sitzt stramm, was mich normalerweise nervt, heute aber nicht. Als ich zu Hause ankomme, lasse ich mir ein heißes Bad ein. Das ist eigentlich nichts Neues, das mache ich oft am Wochenende. Während das Wasser aus dem Hahn sprudelt, hole ich Kerzen aus dem Wohnzimmer und Wein aus dem Kühlschrank. Ich überprüfe ein letztes Mal, ob ich die Tür zugeschlossen habe, und begebe mich ins Badezimmer. Bevor ich in die Wanne steige, sehe ich meinen Körper im Spiegel. Ich bekomme oft zu hören, dass ich mich gut gehalten habe, und heute sehe ich es selbst.
Wenn Sebastian zwischen den anderen Studenten sitzt, verweilt mein Blick länger als gewöhnlich auf ihm. Sein Verhalten an der Universität unterscheidet sich markant von der Autorität, mit der er mir im Kino begegnet ist. T-Shirt und Jeans. Flache Schuhe und verwuscheltes Haar. Aus den Reihen schenkt er mir ein anderes, verheißungsvolleres Lächeln.
Ich werde unruhig, wenn ich an ihn denke. Das liegt nicht nur an der überschüssigen Energie des Kinoabends. Immer häufiger sehe ich sein Gesicht vor mir, wenn ich allein im Büro bin. Ich sehe ihn mit anderen Augen. In meinen Gedanken betrachte ich mich nicht länger als seine Dozentin. Dennoch spreche ich an der Universität nicht mit ihm. Er ist immer von Freunden umgeben. Er ist beliebt, und ich verstehe, warum. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass er mich häufiger als sonst ansieht, wenn er sich mit seinen Freunden unterhält, auch wenn ich mir nicht sicher sein kann. Diese Unsicherheit ist merkwürdig. Ich bin eine ganze Ecke älter als er. Ich bin Dozentin. Er ist Student. Ich war verheiratet. Das war er ganz sicher nicht. Ich habe noch nie die Grenze zu einem jungen Mann überschritten, erst recht nicht zu einem Studenten. Früher habe ich so etwas keinen Gedanken geschenkt.
Mir fällt auf, dass Sebastian jeden Freitag Schicht hat. Wenn ich ihm im Foyer begegne, grüßt er mich, ab und zu wechseln wir ein paar Worte. Er ist immer gut gelaunt, als ließe er sich von nichts und niemandem aus dem Konzept bringen. Seine Fragen drehen sich meistens um das Hier und Jetzt. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Keine Universität. Wenn ich mich für den Weg zum Kino auf mein Fahrrad schwinge, merke ich, dass ich mich genauso auf Sebastian freue wie auf den Film. Ich bilde mir meine Gefühle nicht länger nur ein.
Vor der Vorstellung bestelle ich mir immer ein Glas Wein. Wenn Sebastian keine Zeit hat, sich zu mir zu setzen, nutze ich die Zeit zu beobachten, wie er sich verhält, wie er mit anderen umgeht. Wie er sein Haar zurechtstreicht, an seinem Gürtel zupft, während er sich unterhält. Immer ganz diskret. Seine Uniform ist verhältnismäßig schlicht. Schwarz von oben bis unten, nur mit dem kleinen Logo des Kinos auf der rechten Brust.
Ich glaube, es gibt ein System. Freitags, wenn die Filme Premiere feiern, tragen sämtliche Kartenabreißer ein Jackett, damit das ganze Szenario authentischer, formeller wirkt. Sebastian steht das Jackett unglaublich gut. Er hat einen geraden Rücken und er überspielt die sprunghaften Bewegungen, die ihm im T-Shirt manchmal unterlaufen. Seine Kolleginnen betrachten ihn mit großen Augen, wenn sie miteinander reden. Er ist eindeutig ein begehrter Mann. Das ist er auch an der Universität. Da schmeichelt es mir umso mehr, wenn er sich an meinen Tisch setzt und einen Teil seiner Zeit opfert, um sich mit mir zu unterhalten. Nach einer Weile kann ich die Diskretion nicht länger einhalten. Wenn Sebastian herschaut, wende ich den Blick nicht mehr ab. Ich halte den Augenkontakt lange aufrecht.
Eines Nachmittags klopft es an meiner Bürotür. Ich habe keine Sprechstundentermine. Es kommt manchmal vor, dass ein Student anklopft, weil er Hilfe bei einem Projekt benötigt.
Ich rechne mit einem Kollegen, also schaue ich vom Computer auf und sage Herein. Sebastian steckt den Kopf durch die Tür. Er fragt, ob er störe, und ob ich ein paar Minuten Zeit hätte. Ich ahne nicht, worum es geht. Er sieht etwas beklommen aus.
Ich setze meine Lesebrille ab und zupfe meine Bluse zurecht, während er eintritt. Er lässt sich viel Zeit. Er schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. Es ist still. Hin und wieder hören wir andere Studenten draußen den Gang entlanggehen, sonst nichts. Ich neige den Kopf ein wenig und lächle leicht, um ihm klarzumachen, dass er an der Reihe ist, etwas zu sagen.
Sebastian sagt, ich solle ihn unterbrechen, wenn sein Vorschlag verrückt sei, aber es habe sich da etwas ergeben, und er wolle mich gern dazu einladen. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie es sich anfühlt, wenn man etwas Schwieriges sagen muss, etwas, das abgelehnt werden könnte. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Sebastian schaut mir nicht in die Augen. Er beginnt die Geschichte an anderer Stelle, holt etwas weiter aus. Er erzählt, er habe manchmal Schlussschicht im Kino, und dann die Möglichkeit, einen Gast einzuladen, um einen beliebigen Film zu sehen, wenn er am Ende sowieso alles zumacht. Er hat inzwischen so viel Erfahrung als Kartenabreißer, dass man ihm diese Verantwortung zutraut. Das sei zwar keine Riesensache, aber doch ein bemerkenswertes Erlebnis, so ganz allein einen Film in einem leeren Kino zu sehen. Als er das zum ersten Mal erlebte, sei es jedenfalls magisch gewesen, und jetzt habe er selbst die Möglichkeit, jemanden einzuladen. Er dürfe auch mehrere Gäste mitnehmen, lade aber nur mich ein.
Er hört auf zu sprechen. Einen Augenblick sitzen wir schweigend da. Jetzt liegt es an mir. Sebastian schaut nicht auf, stattdessen betrachtet er die Blätter, die zwischen uns liegen.
„Mich?“, frage ich, ohne zu wissen, wie ich reagieren soll, als mir einleuchtet, dass er mich hiermit um ein Date gebeten hat.
Ich schweige viel zu lange, und das beunruhigt ihn. Er fährt fort:
„Ich habe Sie jetzt schon so oft dort gesehen. Es sieht also so aus, als würden wir unsere Leidenschaft fürs Kino teilen. Tatsächlich kann ich mir keinen besseren Gast als Sie vorstellen. Ich weiß schließlich, dass Sie gute Filme wertschätzen.“
Sebastians Wangen sind rot. Er zieht einen Fetzen Papier aus seiner Hosentasche und liest zwei Filmvorschläge vor. Es sind gute Filme, gute Vorschläge. Filme, die ich gerne einmal sehen würde, die nicht zu Mainstream sind. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, und denke aus unerfindlichen Gründen, dass ich meine offenkundige Freude nicht herausschreien sollte. Ich räuspere mich.
„Wann wäre das?“, sage ich und tue so, als würde ich meinen Terminkalender checken.
„Freitag“, sagt Sebastian. „Oder wann auch immer es Ihnen passt, wirklich. Ich weiß ja nur zufälligerweise, dass Sie freitags gern ins Kino gehen.“
Er unterbricht sich selbst, peinlich berührt von seinem Eifer. Ich lächle.
„Okay“, sage ich.
Unser Verhältnis entspricht immer noch dem einer Dozentin und ihrem Studenten. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, was Flirten angeht. Ich tue so, als notierte ich den Termin in meinem Kalender am Computer, was ich bei privaten Verabredungen nie mache.
„Cool“, sagt Sebastian und steht gleichzeitig auf.
Bevor er das Büro verlässt, dreht er sich noch einmal um.
„Ich freue mich“, sagt er und verschwindet durch die Tür, ehe ich antworten kann.
Er hat den Zettel mit den Filmvorschlägen auf dem Tisch liegenlassen. Ich nehme ihn in die Hand. Sebastians Schrift ist eine konfuse Mischung großer und kleiner Buchstaben, ohne erkennbares System. Er hat außerdem die Namen der Regisseure auf den Zettel