Im Sog der Nacht. Fredrik Skagen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fredrik Skagen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711326695
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haben, den Kopf in den Sand zu stecken. Geschehen ist geschehen.«

      »Recht hast du.«

      »Vielleicht bluffen die Bullen ja bloß. Wollen uns dazu bringen, uns freiwillig zu stellen.«

      »Ja, von so was hab ich auch schon gehört«, pflichtete Frank ihr bei.

      Roger wandte sich ab. Er fühlte sich nicht in der Lage, an dem Versöhnungsfest teilzunehmen. Sie konnten doch nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Auch für sie war der Topf übergekocht, doch anstatt zu jammern, taten sie das Ganze als Kleinigkeit ab. Taten so, als würden sie den Geruch des Angebrannten, der in der Luft hing, nicht bemerken. Wie konnten sie nur?

      Er ging in sein Schlafzimmer. Setzte sich auf das Bett und betrachtete die siegessicheren Gesichter des Teams von Rosenborg Trondheim. Unter ihnen befand sich kein einziger Versager, aber sie hatten auch Glück gehabt. Sportjournalisten wussten zu berichten, dass einzelne Talente besonders hart dafür gearbeitet hatten, ihr Ziel zu erreichen. Aber das war doch wohl das Mindeste. Schließlich wurden sie von niemand gezwungen. Fußballer waren ein merkwürdiges Volk. Jeder von ihnen erzählte gerne, welche Widerstände er hatte überwinden müssen, um in die erste Mannschaft zu kommen. Widerstände? Die wussten doch gar nicht, was das bedeutete. Wussten nicht, was für ein Gefühl es war, als Einziger in der Sportstunde nicht über den Bock springen zu können. Deren Mütter und Väter spornten sie doch unentwegt an, unterstützten sie und ebneten ihnen in jeder Hinsicht den Weg. Die konnten sich erlauben, nach dem Spiel über die Stränge zu schlagen, sich mit aalglatten Sponsoren zu besaufen, um bei nächster Gelegenheit weitere Auszeichnungen entgegenzunehmen, Berichte über sich in der Zeitung zu lesen und hochnäsig zu werden, ohne einen Grund dafür zu haben. In der Regel konnten sie sich bei ihrem Trainer für den Erfolg bedanken. Und beim Glück.

      Leute wie Roger Dalvang hatten nie einen Trainer und schon gar keine Sponsoren gehabt. Er hatte nicht einmal einen Vater gehabt. Nur eine versoffene Mutter, die in ihren lila Klamotten durch die Gegend schlurfte und ihn bei jeder Gelegenheit anschnauzte. Und Glück hatte er nie kennen gelernt. Über mangelndes musikalisches Talent brauchte er sich hingegen nicht zu beklagen. Er hatte ein Ohr für Töne, Klänge und Harmonien wie nur wenige, doch niemand hatte ihm geholfen, aus seiner Begabung etwas zu machen.

      Im nächsten Augenblick schämte er sich für seine Gedanken. Der Vergleich hinkte. Es hatten sich ihm schon hin und wieder Chancen geboten, doch er hatte versäumt, sie beim Schopf zu packen. Du bist einfach ein bisschen zu weich, genau wie ich, hatte Jøran gesagt.

      Als er wieder aufstand, wunderte er sich darüber, wie sehr er zitterte. Das Gewehr lag in der Kommodenschublade, aber er rührte es nicht an. Er wankte auf den Gang hinaus und zog seinen Anorak an. Es stand ihm frei, zwischen den Birken durch den Schnee zu stapfen und aufs Geratewohl den Snauberg hinaufzusteigen. Wenn er nur weit genug ging, gab es kein Zurück mehr. Und wenn er erst einmal die Orientierung verloren hatte, konnte er sich auch freiwillig in den Schnee legen und unter dem offenen Himmel, im Angesicht der unerreichbaren Sterne, erfrieren. Es musste ein angenehmes Gefühl sein, wenn die Glieder so steif geworden waren, dass man keinen Schmerz mehr empfand. Als Zehnjähriger war er einmal so wütend auf seine Mutter gewesen, dass er sich im Park in den Schnee gelegt hatte, um von dieser Welt Abschied zu nehmen. Doch nach einer Viertelstunde war das Sterben so langweilig geworden, dass er wieder nach Hause trottete, sich auf sein Zimmer schlich und eine Patience legte. Wenn die Mutter gewusst hätte, wie nah er dem Tod gewesen war! Doch damals war alles anders gewesen, damals hatten die Schläge noch ausgestanden, die ihn später auf die Bretter geschickt hatten, damals war er noch nicht angezählt worden. Es gab natürlich auch weniger eisige Lösungen: Er konnte sich in den Corolla setzen und mit Vollgas und geschlossenen Augen auf eine Bergwand zurasen. Jøran hatte sich für das Gewehr entschieden und gezeigt, wie einfach es war. Doch nicht einmal das war ihm gelungen. Er öffnete die Tür, ließ sich den Wind ins Gesicht wehen und stellte fest, dass es inzwischen hell geworden war. Die Birkenstämme wirkten jungfräulich und nackt.

      Eine Hand legte sich unerwartet auf seine Schulter.

      »Was hast du vor, Roger?«

      Er drehte sich um und begegnete Franks fragendem Blick.

      »Pinkeln gehen, Holz holen.«

      »Gutes Stichwort. Vielleicht sollte ich endlich mal mit anpacken. Wo liegen die Holzscheite?«

      »Unter dem Dach hinterm Klo.«

      Im Schutz des Schuppens pinkelten sie gemeinsam.

      Frank sagte: »Dumme Geschichte, das mit der Frau.«

      »War doch keine Absicht.«

      »Nein. Wollte ihr nichts antun. So was geschieht einfach.«

      »Kein Wunder, dass dich das ziemlich mitgenommen hat.«

      »Ja, ging mir ziemlich dreckig vorhin. Hab vorher noch nie jemand umgebracht. Hätte ja genauso gut dir passieren können.«

      »Ist es aber nicht!«, sagte Roger rasch.

      »Nein, aber du könntest der Täter sein. In den Jogginganzügen waren wir doch gar nicht voneinander zu unterscheiden.«

      »Wie meinst du das?«

      »Wenn sie uns schnappen ... dann wäre es möglich, dass wir uns gegenseitig beschuldigen.«

      »Warum sollten wir das tun?«

      »Dann können sie keinen von uns verurteilen.«

      Roger verstummte.

      »Ganz ruhig, wir werden ja nicht geschnappt.«

      »N...nein.«

      »Das gefällt dir nicht, was, Roger? Bin früher bei den Pfadfindern gewesen. Einer für alle, alle für einen war die Parole. So muss das zwischen uns auch sein, sonst funktioniert es nicht.«

      »Ich hätte doch niemals ...«

      »Aber natürlich hättest du! Wenn du angegriffen worden wärst, hättest du genau dasselbe getan.«

      »Sie wollte dich nur daran hindern, die Tür zuzumachen.«

      Sie zogen ihre Reißverschlüsse nach oben und schauten sich an. Roger senkte den Blick.

      »Enttäusch mich nicht, Junge! Dir ist doch wohl von Anfang an klar gewesen, das wir Zusammenhalten müssen, was auch geschieht. So wie Lisa das tut.«

      »Sie ... sie ist deine Freundin.«

      »Freundin? Hab noch nie eine Freundin gehabt. Lisa fickt gut. Kannst sie dir gerne ausleihen, wenn du willst. So wie wir auch die Beute geteilt haben. Einer für alle, alle für einen.«

      Roger suchte erneut Franks dunkle Augen. Was das Geld anging, hatte er sein Versprechen gehalten. Er hatte von Anfang an gesagt, dass sie die Beute durch drei teilen würden, und so war es auch geschehen.

      »Verstehst du?«

      »Ja ... aber ich habe die Frau nicht getötet!«

      »Okay, okay, aber du hast trotzdem etwas vergessen.«

      »Und das wäre?«

      »Dass ich dir das Leben gerettet habe.«

      »Das habe ich nicht vergessen, Frank.«

      »Ist das etwa nichts wert?«

      Roger nickte und fühlte sich vollkommen leer. War nicht imstande, Frank zu erklären, dass dessen Worte für ihn einen anderen Sinn hatten, dass er sich beinahe wieder am Nullpunkt befand. Sein Leben war schließlich überhaupt nichts wert. Aber Frank konnte das nicht verstehen, dachte vor allem an sich selbst und daran, was geschehen würde, wenn sie doch festgenommen würden.

      Sie trugen beide einen Arm voll Holz in die Hütte und öffneten danach sämtliche Fensterläden. Frank behielt Recht – auf diese Weise wurde es drinnen schon etwas gemütlicher; und da das Auto nun mal vor der Hütte stand, machte es einen merkwürdigen Eindruck, wenn die Läden geschlossen blieben.

      Roger nahm wieder das Buch über Salzwasserfische zur Hand, konnte