Im Sog der Nacht. Fredrik Skagen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fredrik Skagen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711326695
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Er hatte seiner Mutter damals Geld gestohlen, sich über einen Postversand das lachhaft billige, doch angeblich »unübertroffene« Teleskop Komet II bestellt und nach acht Tagen beinahe unerträglichen Wartens ein in der Länge verstellbares Papprohr erhalten, an dessen einem Ende sich eine große, am anderen eine kleine Linse befand. Mithilfe solcher Fernrohre, hatte Jøran ihn aufgeklärt, entdeckten Astronomen ständig neue Objekte im Weltraum, die in der Regel nach ihren Entdeckern benannt würden. Sein Pappteleskop ermöglichte es Roger, einige graue Mondkrater zu studieren, jedoch konnte er niemals etwas entdecken, das auf außerirdisches Leben hingewiesen hätte.

      Zwar hatte er schon am ersten Abend ein diffuses Objekt ausgemacht, das er sogleich »Rogers Fleck« taufte, musste bei näherer Betrachtung jedoch feststellen, dass es sich um ein Staubkorn auf der Linse handelte.

      Als er begann, in seinen dünnen Joggingschuhen an den Zehen zu frieren, riss er sich vom Anblick des Sternenhimmels los.

      Es tat gut, wieder in die Hütte zu kommen. Wie schon das Auto empfand er sie als behagliche Höhle, die ihn vor den Gefahren der Umwelt schützte. Er putzte sich die Zähne, setzte Wasser auf, wusch sein Gesicht und bereitete sich eine Tasse Tee zu. Danach entfachte er ein Feuer im Kamin, setzte sich in den Sessel davor und rollte sich eine Zigarette. Hier konnte ihm niemand etwas anhaben. Er lauschte dem Wind und dem Summen zweier Fliegen, die von der Wärme zum Leben erweckt worden waren, und fragte sich, ob er noch ein wenig schlafen sollte. Oder sollte er sein Geld noch mal durchzählen? Er tat keines von beidem, sondern studierte das Buchregal. Als Kind hatte er Bücher sehr gern gehabt und war später von Jøran animiert worden, einige norwegische und ausländische Romane zu lesen. »Nahrung für die Fantasie«, hatte Jøran gesagt. Er hatte anfangs nicht genau verstanden, was Jøran damit meinte, doch Bücher hatten ihm stets zu denken gegeben und ihm gezeigt, dass es auch andere Formen der Kindheit gab als die ärmliche, die er selbst erlebte. Doch nach und nach waren die Bücher von Videos abgelöst worden. Nun ließ er seinen Blick über die unbekannten Titel der Hüttenbibliothek wandern und begann sich, da er nichts über Musik oder Astronomie entdeckte, in ein Buch über Salzwasserfische zu vertiefen. Nach einer Weile fühlte er sich so entspannt und zufrieden, dass er sich in Anbetracht des gestrigen Tages wunderte, wie gut es ihm ging. Das Leben war plötzlich herrlich, und so sollte es für immer bleiben. Der Gedanke an Frank und Lisa rief in ihm ein Gefühl der Dankbarkeit hervor. Mehr Wasser zu holen und das Frühstück zu machen war das Mindeste, das er für sie tun konnte.

      Während er vor der Arbeitsfläche stand und Brot schnitt, empfand er das dringende Bedürfnis, sich jemand anzuvertrauen und zu zeigen, wie gut es ihm ging. Es war fast acht Uhr, doch sollte es bereits dämmern, bekam er davon nichts mit, weil die Fensterläden nicht das geringste Licht durchließen. Er hatte das Radio angestellt, zur Musik mitgesummt und die Nachrichten gehört. Dann erschrak er, als er plötzlich einen Schatten hinter sich wahrnahm.

      Es war Lisa. Sie trug nur Slip und BH und betrachtete ihn freimütig. Ihr langes Haar war zerzaust und von der Farbe eines Weizenfelds im Spätsommer. Sie lächelte, als sie den gedeckten Frühstückstisch erblickte.

      »Ach, Roger, wie nett von dir.«

      »Ich ...«

      Er hatte Heidi oft in Unterwäsche gesehen, aber dies war etwas anderes. Er kannte Lisa ja fast gar nicht. Sie war fraulicher, üppiger. Er wusste nicht, wo er seine Hände lassen sollte, als sie zu ihm kam und ihn auf die Wange küsste. War ein wenig enttäuscht, als er ihre Wodkafahne wahrnahm, doch als er ihre Brüste spürte, hoffte er inständig, dass Lisa nur aufgestanden war, um mit ihm zu flirten und sich von einem athletischen jungen Mann vögeln zu lassen, der fünf Jahre jünger war als sie selbst. Noch mehr enttäuscht war er, als sie sich den Zeigefinger vor ihre vollen Lippen hielt und auf das Radio zeigte. Gemeinsam lauschten sie dem Nachrichtensprecher:

      »Aus Trondheim wird soeben vermeldet, dass Nina Mogård, die Ehefrau des Filialleiters, die während des gestrigen Banküberfalls in Heimdal niedergeschlagen worden war, heute Morgen ihren Verletzungen erlag, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.«

      Blass vor Schreck starrten sie einander an.

      6

      Es war offensichtlich, dass ihnen das Frühstück nicht schmeckte.

      Frank kaute stumm vor sich hin und versuchte nicht einmal, sich wichtig zu machen. Das Wissen, dass ihr Überfall einer unschuldigen Frau das Leben gekostet, ihren Mann in Schock versetzt und ein kleines Mädchen mutterlos gemacht hatte, war schwer zu ertragen. Frank, der hierfür die Verantwortung trug, vergoss keine Tränen, war aber offensichtlich nahe daran. Hin und wieder verbarg er sein Gesicht in den Händen. Legte seine Brotscheibe auf den Teller und drehte sich eine Zigarette. Seine Hände zitterten, als sie ihm Feuer gaben.

      »Scheiße, scheiße, scheiße!«

      Lisa, jetzt in Baumwollhose und rot-weiß kariertem Hemd, stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es war ihre eigene Schuld!«, sagte sie eindringlich.

      »Mmh.«

      »Die Frau hätte sich zurückhalten sollen, so wie ihr Mann.«

      »Ja.«

      »Du wolltest sie doch schließlich nicht ...«

      »Natürlich nicht!«

      Roger stand am Kamin und beobachtete sie aus der Distanz. Er kam sich wie ein riesiger Eiszapfen vor, obwohl die Birkenscheite loderten. Für ein paar Stunden war es ihm gelungen, alle Widrigkeiten des Lebens zu verdrängen und so etwas wie das vollkommene Glück zu empfinden, im Bewusstsein, dass ihm keiner etwas anhaben konnte und dass sich alles zum Besten ordnen würde. Das Schicksal hatte ihm eine neue Chance gegeben. Die Konfrontation mit der Realität war umso härter, vor allem, weil diese plötzlich mit einschloss, dass sie ein Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Alles hatte sich seit gestern verändert. Der Überfall war nicht mehr ein alltägliches Verbrechen, jetzt handelte es sich um vorsätzliche Tötung. Vorsätzlich! Dieses Wort hatte der Nachrichtensprecher benutzt. In solch einer Situation nutzte es nichts mehr, zu behaupten, man habe es nicht gewollt. Wenn man sie schnappte, würden sie für viele Jahre ins Gefängnis wandern. Warum, zum Teufel, hatte Frank auch so viel Kraft in den Schlag legen müssen? Gerade er, der ihnen versichert hatte, dass Gewalt ausgeschlossen wäre. Er, der angeblich so viel aus seinen früheren Fehlern gelernt hatte. Nur deshalb hatte Roger sich zum Mitmachen überreden lassen.

      Es war wie auf seinem Geburtstag vor vielen Jahren, als sie ein großes Fest hatten feiern wollen und er den Auftrag seiner Mutter, den Topf mit der dampfenden Kochschokolade im Auge zu behalten, vernachlässigt hatte. Er hatte den klassischen Fehler begangen, dem Herd für einen Moment den Rücken zuzukehren und den verdächtigen Augenblick der Stille nicht wahrzunehmen, der in der letzten Sekunde eintrat, bevor der Kakao überkochte und sich über die Herdplatte ergoss.

      Jetzt war es für Reue zu spät. Am Geburtstag hatte es statt Feier und Kakao eine Standpauke und Tränen gegeben, und auch diesmal nutzte es nichts, so zu tun, als könne man die Zeit zurückdrehen und die Entscheidung, an dem Überfall teilzunehmen, rückgängig machen. Er war wie gelähmt, senkte den Kopf und spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Es war ihm egal, ob die anderen ihn beobachteten. Außerdem schienen die mit sich selbst beschäftigt zu sein.

      »Du hast einfach Pech gehabt«, sagte Lisa zu Frank und verbesserte sich: »Wir haben einfach Pech gehabt.«

      »Ja.«

      »Aber sie wissen nicht, wo wir sind.«

      »Nein.«

      »Also dürfen wir uns nicht aus dem Konzept bringen lassen. Keep cool. Wir müssen Zusammenhalten. Die Bullen haben doch überhaupt keine Ahnung, wer wir sind.«

      Roger schaute erstaunt auf. War Lisa, wenn es darauf ankam, die Kaltblütigste von ihnen allen? Sie hatte gesagt, die Chancen für ein Gelingen stünden bei 90 Prozent. Bedeutete das, dass sie eine Tote in Kauf nahm?

      Frank schien einen Teil seines alten Wesens wiedererlangt zu haben: »Das stimmt, verdammt noch mal. Die Bullen haben keinen blassen Schimmer.« In seinen Augen glomm der Anflug eines Triumphs auf. Lisas Worte schienen ihm